: Nichts für Feiglinge
Das Theater wird angegriffen und zusammengestrichen. Soll es aufgeben? Ein Besuch beim diesjährigen Berliner Theatertreffen, der wichtigsten Werkschau für darstellende Künste, liefert Antworten
Von Anna Fastabend
Es gibt diese eine Szene am Schluss von „Bernarda Albas Haus“, da geht die Mutter reihum und reicht ihren Töchtern ein tödliches Gift. Die Jüngste hat sich kurz zuvor die Kehle aufgeschlitzt, vor den Mauern wüten Incels, in den Köpfen der Frauen sowieso, aber eine Tochter widersetzt sich und geht zur Tür hinaus. Sie geht. Einfach so. Vielleicht nicht in eine rosige Zukunft, aber sie nimmt ihr Schicksal in die Hand. So sieht es aus, das große Finale, durch das man bei Katie Mitchells Inszenierung für das Hamburger Schauspielhaus muss, die das Theatertreffen als erste der zehn eingeladenen Inszenierungen eröffnet hat. Und es könnte sinnbildlich für die Zukunft der Theater dieses Landes stehen, die aktuell in enormer Bedrängnis sind.
Die Leute vom Theater jammern andauernd rum, hört man da direkt jemanden einwenden: Dabei sind die hoch subventioniert und machen Stücke für Ihresgleichen, die darin bestätigt werden wollen, dass sie auf der richtigen Seite sind. Das mag zwar hier und da zutreffen, möchte man erwidern, aber nicht nur die 62. Ausgabe dieser wichtigen Werkschau für die darstellenden Künste bemüht sich um einen jüngeren, diversen Anstrich, indem sie Nachwuchstalente aus Paraguay, Tel Aviv oder Kyjiw einlädt. Auch sonst haben sich die allermeisten Häuser längst geöffnet, ohne damit die blinden Flecken oder Hierarchiegefälle schönzureden. Das Problem ist nur: Wenn die Politik so weitermacht, ist bald nichts mehr übrig von einem der letzten verbliebenen Orte, an dem man noch live zusammenkommen kann, um sich jenseits von Konsum mit Systemkritik und Utopien zu beschäftigen.
Umso mehr muss man feiern, dass „Blutbuch“ es in die diesjährige Zehnerauswahl geschafft hat. Das Stück basiert auf dem preisgekrönten Roman von Kim de l’Horizon und wurde von Jan Friedrich am Theater Magdeburg inszeniert. Das ist zum einen deshalb so bemerkenswert, weil es trotz des begrenzten Budgets eines mittelgroßen Hauses gelungen ist. Und zum anderen, weil die mutige Aufführung aus einer Stadt stammt, in der die AfD bei der jüngsten Bundestagswahl als stärkste Kraft hervorgegangen ist. Die Hauptfigur ist ein*e non-binäre Held*in, die dem rechten Zeitgeist zufolge ja gerade zur Persona non grata wird. Das ist natürlich völlig absurd, weil es den sogenannten Normal“, auf den man sich von rechts außen bis SPD einschießt, in Wahrheit nicht gibt. Fluide Identitäten haben wir schließlich alle, auch wenn sich dabei nicht jede*r so tief ins Unbewusste hineinwagt wie die Erzählfigur. Kein Wunder. So etwas ist nichts für Feiglinge. Denn dort trifft man unter Umständen auf eine Ahnengalerie Großmeere, was in der Schweiz eine Bezeichnung für Großmütter ist, die einen mit ihren ungelebten Leben zu überfluten drohen, aber auch auf sprechende Bäume, die die eigene Stimme in Obhut nehmen, bis man selbst stark genug ist, um sie zu beschützen.
Das Regieteam aus Magdeburg erfindet immer neue fantasievolle Szenen, die in ihrem Stil ein wenig an das Triadische Ballett von Oskar Schlemmer erinnern, aber auch an ein Kasperletheater. Und aus psychotherapeutischer Sicht steckt ja tatsächlich in jede*r von uns ein kindlicher Kern mit dem Bedürfnis nach Liebe, Anerkennung und Entfaltung. Weshalb es auch nicht einzusehen ist, dass dies künftig wieder nur für weiße, heterosexuelle Alphamänner gelten soll, die für ihren Allmachtsanspruch jede Menge sensible Anteile in sich abtöten müssen – siehe Elon Musk und seine Abneigung gegen Empathie.
Apropos Empathie: Mit Pazifismus in Zeiten des Angriffskriegs auf der einen Seite und der besorgniserregenden Lagerbildung in linken Kreisen auf der anderen setzen sich Luise Voigts Inszenierung vom Münchner Residenztheater und das letzte Stück des verstorbenen Volksbühnenchefs René Pollesch auseinander. In „Die Gewehre der Frau Carrar/ Würgendes Blei“ wird eine Witwe zur Soldatin wider Willen. In „ja nichts ist ok“ kommt es zum Zerwürfnis zwischen einem proisraelischen und einem propalästinensischen WG-Mitbewohner. Beide werden von Fabian Hinrichs gespielt und finden Rettung in einem etwas unbeholfenen Gruppenkuscheln.
Irgendwie surreal erscheint, dass der Dramaturg Carl Hegemann, den man gerade noch auf den Treppenstufen der Volksbühne erblickte, während des Theatertreffens stirbt. Und dass Florentina Holzingers viel beachtete Oper „Sancta“ über das sexuelle Erwachen einer Nonne, das in einer fulminanten Neuschreibung der Schöpfungsgeschichte gipfelt, ausgerechnet an dem Tag aufgeführt wird, an dem ein neuer Papst gewählt wird. Sie sei die beste Wahl, verkündet die Performerin Saioa Alvarez Ruiz kurz vorher sinngemäß bei Instagram. Während der Oper schreitet Alvarez Ruiz, die sich selbstbestimmt als lesbische Frau mit Behinderung inszeniert, feierlich im weißen Papstgewand am Orchestergraben entlang. Und wie schön wäre das bitte – sie als Oberhaupt der katholischen Kirche?
In einer besseren Welt könnte man sich jetzt vielleicht tatsächlich mal innovativeren Ansätzen zuwenden. Denn warum sollte eine Nonne nicht splitterfasernackt eine Halfpipe hinuntersausen, wenn es ihr Freude macht? Doch so etwas macht christliche Fundis irgendwie sauer, weshalb sie bei „Sancta“ auch schon demonstriert haben. Dieses Mal bleibt jedoch alles ruhig, dafür ist die Stimmung nicht so dolle, was daran liegen mag, dass statt Holzinger-Ultras eher ein gesetzteres Publikum anwesend ist. Und für die sind Body Art und Weihrauchgeruch entweder ein alter Hut, immerhin ist Holzinger ja nicht die Erste, die so was macht, oder es ist ihnen dann doch zu heftig, etwa als sich Holzinger und eine andere Performerin Karabinerhaken in die Haut treiben lassen, um daran aufgehängt durch die Luft zu fliegen.
Warum es im Theater auch immer so brutal zugehen muss, wird sich so manche*r jetzt vielleicht fragen. Weil die Wirklichkeit noch viel brutaler ist, könnte die Antwort sein. Von Brutalität auf anderer Ebene handelt „Unser Deutschlandmärchen“. Der Regisseur ist Hakan Savaş Mican, der als Pionier des postmigrantischen Theaters gilt und die autofiktionale Erzählung des Leipziger Buchpreisträgers Dinçer Güçyeter am Maxim Gorki Theater uraufgeführt hat.
In dem Stück geht es um eine ambivalente Mutter-Sohn-Beziehung. Die Mutter, gespielt von Sesede Terziyan, ist eine Frau, die als Arbeitsmigrantin nach Deutschland kommt, aber hier mit der Ignoranz ihres Mannes, Rassismus und Ausbeutung konfrontiert wird. Der Sohn, gespielt von Taner Şahintürk, liebt seine Mutter sehr, fühlt sich von ihren Erwartungen aber erdrückt und bricht aus. Neben wunderbarer Livemusik gibt es jede Menge kämpferische, lustige, aber auch tieftraurige Momente. Terziyans und Şahintürks liebevolle Darstellung der Figuren sprechen einen emotional an. Was von diesem Festival bleibt, ist die Erkenntnis, dass die Bergung der vielen unerzählten Geschichten im Theater gerade erst begonnen hat. Aufgeben ist keine Option.
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