: Nicht nur der große Karge
„Unfreiwillige Erinnerung ist explosiv, ein plötzliches, totales und köstliches Verbrennen“: Zum 100. Geburtstag von Samuel Beckett, dessen Leben als Schriftsteller mit Rückzug, Reduktion, schwarzem Humor und Anfällen romantischer Erinnerung verbunden war, aber auch mit deutschen Landschaften
von JÜRGEN BERGER
Man kann es als Ironie des Lebens verstehen, dass Samuel Beckett ausgerechnet mit einem Theaterstück weltberühmt wurde. Als Roger Blin „Warten auf Godot“ erstmals in Paris auf die Bühne brachte, war Beckett bereits Mitte vierzig und ein gereifter Schriftsteller, für dessen Hauptwerk – die Romantrilogie „Molloy“, „Malone stirbt“ und „Der Namenlose“ – seine Gattin Suzanne Descheveaux-Dumesnil jahrelang von Verleger zu Verleger gewandert war. Wahrgenommen hatte man ihn bis dahin nicht. Dass er sich dann innerhalb kurzer Zeit durchsetzen konnte, verdankte er einer Vergeblichkeits-Etüde mit zwei Landstreichern unter einem blattlosen Bäumchen, die auf einen Herren warten, der nie erscheint. Die Uraufführung war im Januar 1953. Seither stehen Wladimir und Estragon in ihrer trübsinnig-komischen Haltung auf der Bühne und sinnieren, ob sie sich nicht lieber erhängen sollen.
Damit stehen sie nebenbei auch für Becketts sarkastischen Humor. Der skeptische Melancholiker zweifelte nicht nur an der Möglichkeit einer metaphysisch geordneten Welt, er fragte sich auch permanent, ob seine Texte was taugen und er überhaupt weiter schreiben soll. Francis Stuart etwa, einem befreundeten irischen Schriftsteller, vertraute er während eines Treffens im Pariser Winter von 1987 an: „Weißt du, Francis, meine Tage bestehen aus nichts als Banalitäten.“ Und mit Blick auf die Romantrilogie: „Das hat eine andere Person geschrieben.“ Paul Auster, ein inniger Verehrer, erinnert sich, dass Beckett auf seine Begeisterung nach der Lektüre von „Camier und Mercier“ fast ungläubig gefragt habe: „Was? Es hat Ihnen wirklich gefallen? Sie fanden es wirklich gut?“
Wie kritisch Beckett seine Texte beurteilte und sie immer wieder zu verbessern suchte, kann man jetzt dem Faksimile eines Handexemplars entnehmen, das Beckett 1957 während seiner Godot-Regie am Berliner Schiller Theater nicht aus der Hand gab. Es ist jetzt zum 100. Geburtstag erschienen (Edition Suhrkamp, Deutsch von Elmar Tophoven, 116 S., 10 €) und zeigt viele handschriftliche Korrekturen wie die am Ende des ersten Aktes. „Schade, dass wir kein Stück Kordel haben“, sagt Estragon da, und später: „Hilf mir daran denken, dass ich morgen einen Strick mitbringe.“ Das kann so stehen bleiben.
Aber Beckett, der kurz vor der Machtergreifung der Nazis während einer längeren Deutschlandreise seine Sprachkenntnisse verbessert hatte und im Folgenden nicht nur Französisch schrieb und Italienisch im Original las, feilte an der deutschen Übersetzung und wollte als „Godot“-Regisseur, dass Estragon zuerst das Fehlen eines Strickes bedauert und dann an die Kordel erinnert werden will. Der Tausch akzentuiert Estragons Kleinmütigkeit. Wer zuerst scheinbar völlig überzeugt den Strick fordert, dann aber eine Kordel will, will unter Umständen doch nicht so entschieden aus dem Leben scheiden. Einerseits ist das kärgliche Dasein fade und beschwerlich, alle Hoffnung lässt Estragon allerdings nicht fahren.
Er wartet insgeheim auf Glücksmomente – auch wenn die sich nur in der Erinnerung einstellen und Beckett im „Godot“ wie in anderen Texten einem Lebensgefühl nachspürt, das ihn seit seinem frühen Proust-Aufsatz beschäftigt: der aufblitzenden glücklichen Erinnerung, die auffällig häufig mit deutschen Landschaften verknüpft ist. Kurz nach dem Strick/Kordel-Tausch liest man in Becketts Handexemplar, wie er auf geografische Korrektheit der dichterischen Fantasie achtet. Estragon spinnt seine halbherzige Selbstmordfantasie weiter und fragt Wladimir, ob der noch wisse, wie er, Estragon, dereinst in den Neckar gesprungen und von ihm wieder herausgefischt worden sei. Wladimir erinnert sich dunkel und meint, das sei während der Weinlese gewesen. Beckett korrigiert, macht aus dem Neckar den Rhein und notiert am Rand „Breisgau?“, streicht das aber wieder.
Vorstellbar ist, dass er zur Erzielung einer größeren geografischen Variationsbreite zuerst den Fluss änderte und dann auf die Idee kam: Da das Ganze nun am Rhein spiele, könne Wladimir sich ja auch an eine Weinlese im „Breisgau“ erinnern – immerhin liegt der südbadische Kaiserstuhl nicht nur im Breisgau und direkt am Rhein, sondern ist auch von Reben bekränzt. Weil Beckett allerdings nie im Südbadischen war und mehr den Klang des Wortes „Breisgau“ liebte, war ihm die Verknüpfung von Rhein, Weinlese und konkreter Landschaft wohl zu riskant. Also beließ er es beim Rhein und dabei, dass die südbadische Landschaft im Werk auch an anderer Stelle auftaucht, immer im Kontext einer glücklichen Erinnerung.
Beckett war Minimalist und wollte vor allem dann nicht übertreiben, wenn es um Glück ging. Trotzdem war der Breisgau für ihn, was die Madeleine für Proust war. Aus heutiger Sicht kann man sagen, vor allem aufgrund des erst nach seinem Tod veröffentlichten „Traum von mehr bis minder schönen Frauen“, dass deutsche Landschaften für ihn eng mit dem Glücksversprechen der Jugend und seiner ersten Deutschlandreise verknüpft waren. Das war Ende der Zwanzigerjahre. Beckett hatte gerade am Dubliner Trinity College ein Einser-Examen plus Goldmedaille gemacht. Im August 1928 startete er einen Blitzbesuch bei der Familie Sinclair in Kassel, um sich Wochen später, auf der Rückreise über Paris, um eine Anstellung an der dortigen École Normale Superior zu bemühen. Was dazwischen geschah, lag lange im Dunkel. Einige Hinweise bekommt man nun in einem Band, den der Beckett-Biograf James Knowlson mit seiner Frau Elizabeth zum 100. Geburtstag vorlegt. („Beckett Erinnerung“, Deutsch von Christel Dormagen, Suhrkamp, 360 S., 22. 80 €)
Da gibt es einen Teil der Interviewmitschnitte, die Knowlson Anfang der Neunzigerjahre in Vorbereitung seiner Biografie führte und die er damals nicht direkt verwenden konnte. Zur Kusine äußerte Beckett sich in hohem Alter: „Peggy studierte Klavier und besuchte eine Musikschule in der Nähe von Wien. Sie war ein sehr lebhaftes, lebenslustiges Mädchen. Und ja, in meinem Werk ‚Traum von mehr bis minder schönen Frauen‘ ist sie die Smeraldina.“ Er sei natürlich auch mit Peggy ausgegangen, und: „Oh, Peggy musste man nicht erobern.“ Da untertreibt der gereifte Beckett insofern, als er mit Peggy nicht nur am Klavier vierhändig Beethoven und Schubert spielte. Kurze Zeit wollte er Peggy gar heiraten, war aber angesichts der lebhaften Art der Kusine dann doch eingeschüchtert.
Vor allem hatte er die Mutter im Nacken, der die Neigung des Sohnes ein Dorn im Auge war. Mit der Kusine, das geht nicht! Und dann haben die Sinclairs ständig Geldprobleme! Als während Becketts wilden Pariser Jahren und parallel zur Affäre mit Peggy Guggenheim wiederum eine Pianistin in sein Leben trat und bis zu ihrem Tod dort verweilte, dürfte das kein Zufall gewesen sein. Suzanne war die Frau, deren Nähe er ertrug, obwohl beide ein eher partnerschaftliches Verhältnis pflegten. Die Zeit mit Peggy Sinclair Ende der Zwanzigerjahre dagegen war der wichtigste lebensweltliche Nährboden seines Schreibens, vor allem, wenn es um sein an Dante geschultes hohe Lied an die Frau ging.
Mit Peggy las er Fontanes „Effi Briest“, um drei Jahrzehnte später Lektüre und Liebe in „Krapps last tape“ zu vereinen. Auch da geht es um das Glück der Erinnerung inmitten eines trübselig versiegenden Lebens. Der alte Krapp sortiert seine mit Erinnerung gefüllten Tonbandspulen und macht sich über sich selbst lustig –„Hörte mir soeben den albernen Idioten an, für den ich mich vor dreißig Jahren hielt“ –, um übergangslos in lautmalerische Erinnerungsgefilde zu driften. „Schwelgte im Wort Spule. (Genießerisch). Spuuuule! Glücklichster Moment der letzten fünfhunderttausend.“ Und dann, wie aus heiterem Himmel: „Sah mir die Augen aus dem Kopf, indem ich wieder einmal Effi las, eine Seite pro Tag, wieder einmal unter Tränen. Effi … (Pause). Hätte mit ihr glücklich sein können, da oben an der Ostsee, und die Kiefern und die Dünen. (Pause). Nicht! Und sie? Bah?“. Auf die Fontane-Reminiszenz folgt eine der raffiniertesten Liebesszenen der Literaturgeschichte. „Wir trieben mitten im Schilf und blieben stecken. Wie die Rohre sich seufzend bogen unterm Bug! Pause. Ich sank auf sie nieder, mein Gesicht in ihren Brüsten und meine Hand auf ihr. Wir lagen da, ohne uns zu bewegen. Aber unter uns bewegte sich alles und bewegte uns, sachte, auf und nieder und von einer Seite zur anderen.“
Im Mai 1933 starb Peggy an Lungentuberkulose, kurz darauf Becketts Vater. Beide Todesfälle, so Knowlson, lösten eine Depression aus und führten dazu, dass Beckett sich in die Hände des Londoner Analytikers und Jung-Schülers Wilfried Ruprecht Bion begab. „Ich lief die Dawsons Street entlang und spürte auf einmal, daß ich nicht weitergehen konnte. Eine seltsame Erfahrung, die ich kaum beschreiben kann. Ich hatte das Gefühl, als könnte ich mich nicht von der Stelle rühren“, äußerte Beckett in einem Gespräch mit seinem Biografen. Interpretiert man das Jahr 1933 emphatisch, dann fiel in dieser Zeit die endgültige Entscheidung gegen eine universitäre Laufbahn und für ein Leben als Schriftsteller, das für Beckett mit Rückzug, Reduktion, schwarzem Humor und Anfällen romantischer Erinnerung verbunden war. „Unfreiwillige Erinnerung“, schreibt er in seinem 1931 publizierten Proust-Essay, sei „explosiv, ein plötzliches, totales und köstliches Verbrennen. Sie stellt nicht nur das Objekt der Vergangenheit wieder her, sondern auch den Lazarus, den es bezaubert oder gefoltert hat.“
Das kann man als Ausgangspunkt für eine Lektüre nehmen, in der immer wieder ein Beckett zum Vorschein kommt, der so gar nicht dem Bild vom großen Kargen aus dem Westen entsprechen will. Selbst in seinen Gedichten trifft man immer wieder auf Stellen, in denen er Orte in Deutschland thematisiert, um übergangslos sarkastischen Witz folgen zu lassen. Wegen Hörspiel- und Fernsehproduktionen etwa weilte er häufig in Stuttgart. In diesem Zusammenhang entstand eines seiner knappen Gedichte: „Vergeßt nicht beim Stuttgart-Besehen/die Neckarstraße zu gehen./Vom Nichts an diesem Ort/der alte Glanz lange fort./Und der Verdacht ist groß:/hier war schon früher nichts los.“
Wer die Stuttgarter Neckarstraße kennt, stimmt zu und wartet auf schönere Landschaftsbilder. Warten ist übrigens auch in einem anderen Fall angesagt. Samuel Barclay Beckett, der laut seiner Mutter am 13. April 1906 zur Welt kam, hinterließ viele Tagebuchnotate, die noch in einem Tresor der Beckett International Foundation im angelsächsischen Reading lagern.