■ Nicht der Kampf für eigene Ideen, sondern die Übernahme neoliberaler Dogmen gilt heute als Zeichen grüner Politikfähigkeit: Die Tragödie des grünen Niedergangs
Bei ihrer ersten Teilnahme an einer Europawahl kamen die Grünen 1979 auf 3,5 Prozent. 20 Jahre später haben sie drei Prozent mehr – und feiern den Verlust eines Drittels ihrer Wähler gegenüber der Wahl von 1994 als „Stärkung“. Das Fernziel der grünen Prominenz ist nicht mehr eine politische Mehrheit für die Sicherung unserer Zukunft, sondern der Sieg über die FDP im Kampf um ihre schwindende Wählerschaft aus den „akademisch oder technisch gebildeten Mittelschichten“.
Nicht mehr der Kampf für eigene Ideen, sondern die fast unbegrenzte Übernahme neoliberaler Dogmen gilt jetzt als Markenzeichen grüner Politikfähigkeit. Der dringend nötige Umbau unserer Gesellschaft ist so nicht zu erreichen. Das Ausmaß der Herausforderung hat US-Vizepräsident Al Gore in „Wege zum Gleichgewicht“ treffend beschrieben: „Wir müssen die Rettung der Umwelt zum zentralen Organisationsprinzip der Zivilisation machen. Mit allen verfügbaren Mitteln. (...) Kleine Veränderungen in der Politik, in den Gesetzen und Regeln sind alles Formen einer Beschwichtigungspolitik, um uns weiterhin glauben zu lassen, daß Opfer, Kampf und eine schmerzhafte Umwandlung der Gesellschaft nicht nötig sein werden.“
Die Grünen sind zu Vertretern eben dieser Beschwichtigungspolitik geworden. Aber was macht es für einen Sinn, grüne Schlüsselforderungen in einer Zeit über Bord zu werfen, wo sich ihre Richtigkeit bestätigt. Die ökonomische Globalisierung ist ein letzter Versuch, den natürlichen Grenzen des „Wachstums“ zu entkommen, indem die Reichen in den ökologischen und wirtschaftlichen Raum anderer Länder hineinwachsen.
Die Grünen hatten früher das Ziel, den Menschen mit der Natur zu versöhnen. Wer soll nun dieses Ziel vertreten? Unsere Zukunft wird nicht von Dax, Dow Jones oder Firmenfusionen entschieden, „sondern eben durch die Wirklichkeit“ (Carl Amery). Aber auch bei den Grünen wird heute Wirtschaftspolitik von Politikern gemacht, die glauben, wir könnten Geld essen. So erklärte Oswald Metzger im Spiegel, wir hätten das Geld unserer Kinder und Enkel „verfressen“ und brauchten daher jetzt „hohe Wachstumsraten“, um diese Schulden zu tilgen. Metzger beschreibt die neuen Aufgaben des Staates: einerseits die Infrastruktur auszubauen – also staatliche Mehrausgaben im Interesse der Unternehmer, andererseits die Unternehmersteuern zu senken und die soziale Sicherung zu reduzieren. Und das in einem Land, wo seit 1980 die Profite der Unternehmer um ein Vielfaches der Löhne und Gehälter gestiegen sind!
Ist es verwunderlich, daß die Wähler der Grünen zu Hause bleiben, wenn ausgearbeitete Konzepte einer ökologischen Wende aufgegeben werden und grüne MdBs die letzten ungeprüften Modeideen aus Washington als neues grünes Denken verkünden? So werden Geld- und Umweltschulden gleichgesetzt und die Zahlung der ersten prioritiert. Aber Geldschulden können gestundet, vergeben, durch eine Währungsreform reduziert werden, falls unsere Nachkommen sie nicht verkraften können. Bei Umweltschulden gilt das nicht.
In seinem ersten Interview als Außenminister erklärte Joschka Fischer wilhelminisch, es gäbe keine grüne, sondern nur eine deutsche Außenpolitik. In seinem letzten Buch kommt er zu dem erstaunlichen Schluß, „der Machttransfer von Politik zur Wirtschaft“ bedeute eine „Zivilisierung“ der internationalen Machtpolitik – obwohl die meisten Kriege gerade Kämpfe um wirtschaftliche Ressourcen waren.
Für die meisten Menschen bedeutet die Globalisierung keine „Zivilisierung“, sondern einen Krieg der Reichen gegen die Armen. Die ökonomischen Ungleichheiten haben sich in den 80er und 90er Jahren überall vergrößert. Die Gewinne der Armen aus den 60er und 70er Jahren sind wieder verloren. Die Folgen: Wenn die Politiker keine Verbesserung des Lebensstandards mehr versprechen können – weil dies den Vorgaben des IWF widersprechen würde –, dann können sie nur noch darin wetteifern, Haß zu verbreiten, wie in Somalia, Ruanda und Jugoslawien. In diesen Ländern wurden kurz vor Ausbruch der Bürgerkriege strenge „Strukturanpassungsprogramme“ der Weltbank und des IWF durchgeführt, die zu Einkommenseinbrüchen in der Bevölkerung führten. So fielen die realen Gehälter in Jugoslawien im ersten Halbjahr 1990 um 41 Prozent.
Die Angst vor der eigenen Courage sitzt bei den Grünen mittlerweile so tief, daß jede Forderung sofort wieder relativiert wird. Wer aber kein Vertrauen in die eigenen Ziele hat, kann dafür auch keine Wähler mobilisieren. Die grüne Prominenz wird sich bald das Klagen über ihre unzuverlässige Basis sparen können – denn sie wird keine mehr haben.
Die katastrophalen Folgen der gegenwärtigen Politik werden immer offensichtlicher. Fast täglich erreichen uns neue Horrormeldungen. Eine verantwortungsbewußte Realpolitik fragt daher nicht, wieviel Gesundheit, Umwelt, Solidarität, Menschenrechte und Kultur wir uns ökonomisch leisten können, sondern im Gegenteil, was für ein ökonomisches System wir uns menschlich, ökologisch, sozial und kulturell leisten können.
Die jetzige Weltordnung ist kein Naturereignis. „Es ist nicht leicht gewesen“, schreibt der Harvard-Ökonom David Korten, „ein Wirtschaftssystem zu schaffen, das 400 Dollar-Milliardäre produziert, während 1,3 Milliarden Menschen in absoluter Armut gehalten werden. Es hat eine lange und hingebungsvolle Arbeit von Scharen von Ökonomen, Juristen und Politikern auf den Gehaltslisten der Reichen gebraucht, um ein solches System zu verwirklichen ... Es wird eine genauso engagierte Anstrengung der Zivilgesellschaft verlangen, ein Wirtschaftssystem zu entwickeln und zu verwirklichen, das ökonomische Gerechtigkeit und ökologische Nachhaltigkeit fördert.“ Die Kampagne gegen das MAI-Abkommen hat gezeigt, daß wir nicht machtlos sind und die Weltherrschaft der Milliardäre nicht unvermeidbar ist. Die grünen „Realpolitiker“ müssen jetzt entscheiden, ob sie Teil der Problems oder der Lösung sein wollen.
Den Grünen wurde früher vorgeworfen, sie wollten eine andere Republik. Heute sind es die anderen Parteien, die eine ganz andere Republik schaffen wollen. Mit „Reformen“ meinen sie die Übernahme des anglosächsischen Modells, wo die Arbeitslosen aus der Statistik manipuliert werden oder ins Gefängnis wandern, während die Lebensqualität, Gesundheit und Sicherheit der Mehrheit absinkt und die Einkommensunterschiede ins Uferlose steigen.
Wir brauchen eine erneuerte grüne Partei, die aus der Logik des Geld- und Wachstumszwanges ausbricht und die alten Dogmen hinterfragt. Auch die „Lohnarbeit ist nicht das höchste Entwicklungsstadium der Menschheit“ (André Gorz). Die rückwärtsgewandte Vollbeschäftigungsnostalgie ist die letzte Bastion, die mit Zähnen und Krallen verteidigt wird, damit die wirklich großen, drängenden Fragen der Zweiten Moderne nicht offen hervorbrechen: Wie können die Grenzen des Wachstums in lebbare Lebens- und Arbeitsformen umgesetzt werden? (Ulrich Beck)
Für nützliche Bürgerarbeit muß ein Bürgergeld bezahlt werden. Jeder hat das Recht zu leben und an der gesellschaftlichen Entwicklung teilzunehmen, auch wenn er keinen ökonomischen Profit erwirtschaftet. Es war das historische Verdienst der Arbeiterbewegung, „mit der Durchsetzung von politischen und sozialen Rechten für das besitzlose Proletariat das Fundament der Demokratie über das Besitzbürgertum hinaus zu verbreiten“ (Wolfgang Ullmann). Heute wird versucht, dies wieder rückgängig zu machen: Die Herrschaft des Marktes bedeutet die Rückkehr zu einer Ordnung, in der nur die Reichen das Wahlrecht hatten. Warum schützt der Staat die Eigentumsrechte der Geldspekulation, aber nicht das Eigentumsrecht jedes Erdbürgers auf Lebensgrundlagen, die für Freiheit und Würde des Lebens Mindestbedingungen sichern?
Es kann nicht mehr um Wachstum gehen, sondern darum, WAS wir produzieren. Wie steigern wir das Bewußtsein für die vielen positiven Möglichkeiten dieser neuen Ordnung? Wie reformieren wir unsere Wissenschaft mit ihrem veralteten, mechanistischen Denkansatz, ihren engen Horizonten und ihrer weitverbreiteten Käuflichkeit? Wie machen wir sie transparent und ethisch? Das sind nur einige der Herausforderungen für eine erneuerte grüne Partei.
Jakob von Uexküll
Grüne Wirtschaftspolitiker glauben offensichtlich, man könne Geld essen
Die Grünen sind zu Vertretern einer Beschwichtigungspolitik geworden
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