■ Nicht Günter Grass, seine Kritiker kann man nicht ernst nehmen: Mehr Augenmaß, bitte!
Die Deutschen brauchen keine Bölls, Giordanos und Grass mehr für die richtige humanitäre Orientierung. Sie wissen inzwischen selbst um ihren Wert im internationalen Vergleich. Schließlich bietet die Bundesrepublik heute mehr Menschen Zuflucht als Frankreich oder Großbritannien. Selbstbewußt, stolz und unwiderruflich sind die Bundesbürger in der Welt der universellen Menschenrechte angekommen. Wer sich so erfolgreich fortentwickelt, der reagiert empfindlich auf Kritik.
„Günter Grass vergleicht die deutsche Asylpolitik mit den ethnischen Säuberungen in Serbien“, so die Agenturmeldung. Wenige Stunden später haben die Kommentatoren ihr Urteil gefällt: Als Literat hat Günter Grass seine Verdienste erworben, als politischer Mensch ist er ein Depp. Auch Bundesinnenminister Otto Schily treibt es den Schaum vor den Mund: „Es ist zu bedauern, daß ein großer Schriftsteller einen so grotesken Unsinn äußert. Das kann man nicht ernst nehmen.“ Hätte Günter Grass wirklich gesagt, was die Kritiker ihm vorwerfen, man könnte umstandslos in den Chor einstimmen.
„Die Abschiebepraxis in Deutschland führt dazu, daß Menschen, die nichts Kriminelles getan haben, hinter Schloß und Riegel sitzen – und das hat sich bis heute nicht geändert. Es wird durch das Grauenhafte, das im Kosovo geschehen ist, noch deutlicher: Die ethnischen Säuberungen auf dem Balkan, die in erster Linie Moslems getroffen haben, finden bei uns auf legale Art und Weise eine Entsprechung. Irgendeine Behörde entscheidet, daß uns unliebsame Ausländer in dieses oder jenes Land zurückgeschickt werden können. Das ist im Grunde die Fortsetzung der ethnischen Säuberung. Ich bin enttäuscht darüber, daß sich an dieser Haltung trotz Regierungswechsel nichts geändert hat, daß sich die Situation durch die demagogische Unterschriftenaktion gegen die doppelte Staatsbürgerschaft – ein Akt der Volksverhetzung – sogar noch verschlimmert hat.“
Was soll daran falsch sein? Eine Gleichsetzung der deutschen Politik mit Miloševic' Vertreibungspolitik ist es nicht. Es ist schlicht die Skepsis eines Menschen gegenüber der deutschen Ausländer- und Flüchtlingspolitik, der dem Selbstbildnis eines toleranten und weltoffenen Deutschland mißtraut. Dafür gibt es gute Gründe. Unbestreitbar sitzen hierzulande Menschen über Wochen in Abschiebehaft, um dann in die Hände ihrer Verfolger zurückgeschickt zu werden. Mit tödlichem Ausgang.
Nein, in Deutschland gibt es keine Massaker im Dienste einer ethnischen Säuberung. Das weiß auch Grass. Aber es gibt Straßenbanden, die genau dieses Ziel verfolgen. Die 90er sind voller Beispiele, wie völkische Stimmungsmache von Vertretern der CDU, CSU und SPD diese paramilitärischen Stoßtrupps zur Aktion ermunterte. Hoyerswerda, Rostock, Mölln, Solingen und Dolgenbrodt sind nur ein paar Ereignisse, die nicht vergessen werden sollten.
Und wer möchte widersprechen, daß die Beteiligung an der Unterschriftenaktion der Union gegen die doppelte Staatsbürgerschaft bei vielen Unterzeichnern vor allem den Wunsch nach ethnischer Homogenität ausdrückte. Die Stimmung in den Fußgängerzonen lautete: Ausländer raus. Das meint nichts anderes als die Korrektur der ethnischen Zusammensetzung dieser Republik. Notfalls mit Gewalt, sagt der Straßenmob.
Die Erregung, die Günter Grass nun entgegenschlägt, läßt sich auch ganz anders lesen. Nicht dem Dichter mangelt es an Augenmaß, sondern einer sich eine Zivilgesellschaft wähnenden Sozietät, die noch zu viele Leichen in ihren Kellern hat. Die erfolgreich verdrängt hat, als wie dünn der demokratische Firnis sich erwiesen hat, als CDU/CSU und SPD bereit waren, den (völkischen) Ausnahmezustand zu provozieren, nur um das Grundrecht auf Asyl zu kippen.
Intellektuelle wie Günter Grass, deren politische Identität untrennbar mit Auschwitz verbunden ist, sind eine aussterbende Spezies. Mit ihrer Skepsis wirken sie in dem sich zweifelsfrei demokratisierenden Deutschland hoffnungslos altmodisch. Aber sympathischer, weil glaubhafter als die postmodernen, jung-dynamischen und selbstgerechten Plappermäuler, die glauben, sie hätten Toleranz und Zivilität mit der Muttermilch aufgesogen, sind diese älteren Herren und Damen allemal. Eberhard Seidel
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen