Neukölln: Vorzeigetyp, der Mut machen soll
Vom Problemjugendlichen zum Integrationshelden - der junge Deutsch-Araber Fadi Saad hat sein Leben zwischen zwei Buchdeckel gepresst.
Es dürfte nicht viele Männer geben, denen schon passiert ist, was Fadi Saad an diesem Nachmittag erlebt: "Bitte: Mein Held!" - so wird er aufs Podium gerufen. Und zwar von keiner anderen als Seyran Ates, die als kämpferische Anwältin und Frauenrechtlerin sonst eigentlich kaum für solche Flötentöne bekannt ist - insbesondere gegenüber Männern orientalischer Herkunft.
Fadi Saad, Quartiersmanager in Neukölln und Kind palästinensischer Flüchtlinge, präsentiert an diesem Mittwochnachmittag sein erstes Buch. Es heißt: "Der große Bruder von Neukölln", Unterzeile: "Vom Gang-Mitglied zum Streetworker." Dass Titel des Buches und Ort der Vorstellung - das Nachbarschaftsheim im Neuköllner Rollbergviertel - nicht unbedacht gewählt sind, zeigt zuletzt das bunte und zahlreich erschienene Publikum. Gut hundert Menschen drängen sich im Saal, Sozialarbeiter und Quartiersmanager ebenso wie Vertreter der örtlichen Polizeiwache, Menschen deutscher, türkischer, arabischer, afrikanischer Herkunft.
Per Video wird der Auftritt des jungen Autoren sogar noch nach draußen übertragen, wo Schulklassen samt Lehrpersonal der Veranstaltung folgen. Und Seyran Ates ist an diesem Nachmittag nicht die einzige Frau, die Lob über den jungen Mann ausgießt. Auch Maria Böhmer (CDU), Bundesbeauftragte für Integrationsfragen, ist nach Neukölln gekommen. "Ich bin stolz auf Sie", lobt sie und sagt: "Wir brauchen viele Fadi Saads."
Der Held hat denn auch Tränen der Rührung in den Augen, als er vor sein Publikum tritt: Fadi Saad, in Berlin geboren, Ältester von acht Geschwistern, einst gescheiterter Hauptschüler und auf dem Weg in eine kriminelle Karriere, heute 28 Jahre alt, beschäftigt als Quartiersmanager im Neuköllner Körnerkiez, verheiratet und Vater von zwei Söhnen. Es ist seine eigene Geschichte, die er aufgeschrieben hat, eine Geschichte, die ihn für viele zum Vorbild, zum großen Bruder werden lässt: Da hat es einer geschafft, sich eher mehr als weniger an den eigenen Haaren aus dem Sumpf zu befreien, in den so mancher der stets von gesellschaftlicher Ächtung bedrohten männlichen Einwandererjugendlichen zu versinken droht.
Dabei enthält Saads Buch, das in freundlich-charmantem Plauderton auf gut 150 Seiten daherkommt, auch entmutigende Passagen - etwa die Konsequenz, mit der der junge Mann seinen Abstieg beschreibt.
Saad wächst im Soldiner Kiez im Wedding auf. Wie so viele "Schüler nichtdeutscher Herkunftssprache" kommt er auf die Hauptschule, wo er Gewalt, Diskriminierung, Hoffnungslosigkeit erlebt. Er landet schließlich in einer Gang. "Araber Boys 21" nennt sich die Gruppe von Jugendlichen palästinensischer und libanesischer Herkunft.
Es beginnt eine scheinbar ausweglose Spirale aus Gewalt und Kriminalität. "Ich wollte irgendwo dazugehören", schreibt Saad in seinem Buch. In der Gang habe er "endlich Leute gefunden, die für mich da waren. Sie halfen mir, wenn ich Probleme hatte. Ich hatte jemanden gefunden, der mich akzeptierte".
Immer stärker entfremdet der Junge sich auch von seiner Familie, die keinerlei Einfluss mehr auf ihn hat. Sein Leben spielt sich auf der Straße ab: in Konfrontationen mit anderen Gangs, meist Einwandererkindern anderer ethnischer Herkunft, mit der Polizei, mit Sozialarbeitern und Lehrern, die den Jugendlichen nichts zu bieten haben.
Mit ihnen geht Saad heute scharf ins Gericht. Statt den Jugendlichen echte Grenzen zu setzen, ihnen Regeln zu geben und Verstöße zu ahnden, ließen sie sie oft gewähren. Auch den Umgang von Polizei und Justiz mit jungen Kriminellen kritisiert er. Zwar griffen Polizisten oft besonders hart durch, wenn es um Jugendliche nichtdeutscher Herkunft ginge, doch verbauten sie sich gerade dadurch die Chancen, Respekt zu erwerben. Und Richter ließen sie zu oft mit laschen Ermahnungen davonkommen, die kaum Folgen hätten.
Tatsächlich war es in seinem Fall der erste Aufenthalt im Jugendarrest, der die Wende möglich machte. Kaum strafmündig geworden, musste Saad für ein Wochenende hinter Gitter. Zunächst kein Grund zur Panik für den jungen Deutscharaber - eher zum Stolzsein: "Ich war sehr aufgeregt, denn ich hatte von meinen Freunden gehört, wie cool es im Knast sei", schreibt Saad.
Doch dann die Ernüchterung: "Es war gar nicht so, wie meine Freunde erzählt haben. Im Gegenteil, es war grauenvoll. Ich kam mir so erniedrigt vor, als wäre ich in einem Käfig gefangen." Das Wochenende im Arrest brachte ihm den "Kick", den er brauchte, um sein Leben zu verändern: "Ich habe in der Zelle viele Tränen vergossen und über mein Leben nachgedacht", schreibt Saad. "In dem Moment wurde mir erst klar, wo ich gelandet bin und wie tief ich in der Scheiße saß. Wie konnte ich meine Familie so sehr enttäuschen? Und wie geht es weiter mit meinem Leben?"
Saad löst sich aus der Gang, macht seinen Schulabschluss und schafft sogar eine Ausbildung zum Bürokaufmann. Und er beginnt mit Kindern und Jugendlichen aus Einwandererfamilien zu arbeiten - zunächst beim Arabischen Kulturinstitut AKI in Neukölln, später im Rollbergviertel. Im Körnerkiez organisiert Saad Fußballturniere, berät Schulen und Familien, vermittelt in Konflikten zwischen Jugendlichen und Polizei.
Und er wird berühmt. Mit anderen Jugendlichen und jungen Erwachsenen begleitet Fadi Saad Bundeskanzlerin Angela Merkel 2006 zum deutsch-französischen Ministertreffen in Paris, wo sie den Politikern ihre Ideen zur besseren Integration von Einwanderen vorstellen.
Ein Aufstieg wie aus dem Bilderbuch: Klar hätten ihm damals "die Knie geschlottert", erzählt Saad bei seiner Buchvorstellung. Doch dann habe er gemerkt, dass man ihm ernsthaft zuhöre: "Und wenn man das merkt, dann ist doch alles gut."
Zuhören und ernst nehmen, aber auch Regeln aufstellen und kontrollieren: Dafür plädiert Fadi Saad heute, wenn es um die Integration von Einwandererkindern geht. Neu sind seine Vorschläge nicht: Mehr Lehrer, Sozialarbeiter, PolizistInnen nichtdeutscher Herkunft oder wenigstens mit interkultureller Kompetenz, mehr Kontakt zwischen Einwandererfamilien und Institutionen.
Neu ist aber die Intensität, mit der er die Welt beschreibt, in der er aufgewachsen ist. Eine Welt, in der die Zeit positiver Erfahrungen, Anerkennung und Ermutigung mit dem Eintritt in die Hauptschule zu Ende ist, in der Kinder als einzige Vermittler zwischen Elternhaus und Gesellschaft alleingelassen werden und in der weder die Aufnahme- noch die Herkunftsgesellschaft so etwas wie Heimat sein kann.
Dass er sunnitischer Moslem ist, habe er erst gelernt, als sich in der Hauptschule die Jugendlichen unterschiedlicher Glaubensrichtungen Schlägereien lieferten, berichtet Saad. Und dass er einst im Jugendarrest saß, erfuhr sein Vater erst, als Fadi schon in Talkshows über sein Leben erzählte. "Deuraber" nennt Fadi Saad die Jugendlichen, die so aufwachsen wie er. Und lacht, wenn er erzählt, dass sie nicht immer gerne hören, was ihr großer Bruder sagt.
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