Neukölln fürs Herz: Die tägliche Sahnetorte
Ein Besuch in "Bibis Imbiss" in Berliner Bezirk Neukölln fördert ganz neue Erkenntnisse über den Berliner Humor zutage: Die können über sich selbst lachen.
D ie Kneipe an einer Ecke der Sonnenallee heißt "Bibis Imbiss". Verraucht ist sie. Das Radio läuft. Zwei Palmen aus Plastik stehen mitten im Raum, verstaubter Efeu und blinkende Leuchtschlangen ranken sich um deren Stämme. Angegraute Plastiksessel, mit Wachstuch bedeckte Tische vervollständigen das Mobiliar.
An einem sitzt ein alter Mann mit weißer, zerzauster Mähne und brauner Strickjacke. Unentwegt redet er auf ein Gegenüber ein - es ist nicht da. Eine dicke Frau, 40 ist sie vielleicht, sitzt in einem Rollstuhl und isst Cremetorte. Neben ihr hockt eine noch viel dickere Frau mit grauem, geflochtenem Dutt. Sie wischt der Frau im Rollstuhl nach jedem Biss über den Mund und spricht in sich hinein. "Du sagst, ich soll mich kümmern. Na klar. Wer auch sonst. Man kann da mit Medikamenten viel machen. Ha, wenn ich das schon höre. Keine Ahnung haben die. Einen Tag sollte es ihnen mal so gehen. Einen Tag!" Die Frau im Rollstuhl sagt nichts. Hinter den beiden ein Liebespaar Mitte fünfzig, beim Versuch sich zu küssen. Draußen gießt es in Strömen.
Autos rauschen die Sonnenallee entlang und übertönen das Radio. In regelmäßigen Abständen stellt die Wirtin es lauter. "Man kann da was machen", sagt plötzlich der alte Mann mit der Strickjacke zum Gegenüber, das nicht da ist. "Du musst doch wieder arbeiten gehen. Ja? Versprichst du es? Na, dann ist gut."
Bei Werbung wird das Radio lauter. Die Wirtin dreht es leiser. Dann wieder Musik. Die Wirtin dreht lauter, spült Gläser, trocknet sie ab, sortiert sie in ein Regal. Der weißhaarige Mann bestellt noch einen Kaffee.
"Ich komme mir vor wie eine Hexe!", ruft da die dicke Frau mit Dutt, die sich bemüht, ihren Hintern aus dem Plastiksessel zu heben. Sie stemmt ihre Hände auf die Lehnen, drückt sich hoch, versucht auf die Füße zu kommen. Es klappt nicht. Sie scheint mit dem Sessel verschmolzen. Um sich zu befreien, vollführt sie einen eigenartigen Tanz. Der Sessel hängt an ihr, er kommt mit. Sie verliert das Gleichgewicht, fällt nach hinten, die Füße des Sessels klacken im Stakkato auf den Boden. Die Frau kämpft immer verzweifelter, stemmt sich hoch, zieht, stöhnt und schwitzt. Vor ihr auf dem Tisch liegt ihr Portemonnaie. "Moni, ich sitze fest", schreit sie. "Komme gleich", ruft die Wirtin.
Die Dicke ringt weiter mit dem Sessel. Plötzlich fängt die Frau im Rollstuhl an zu lachen. Spitz und schrill kreischt sie auf und schlägt sich mit beiden Händen auf die Schenkel. Mit offenem Mund starrt die Dicke sie an und hält einen Moment beim Kampf mit dem Stuhl inne. Dann verzieht sie ihr Gesicht, grinst breit, gibt zwei kehlige Laute von sich und stimmt aus vollem Hals in das Lachen der anderen ein. Als hätte ihr jemand einen Schubs gegeben, schmeißt sie ihren Körper nach hinten, dass der Sessel für einen Moment nur auf zwei Beinen schwingt, sie streckt ihre Füße von sich, liegt da und lacht. Ihr Bauch, ihr Busen, ihr Doppelkinn, ihre Schenkel, ihre Oberarme, alles wackelt. Grölend liegt sie über dem Sessel und bringt den ganzen Raum zum Beben. Wird das Lachen der einen Frau leiser, fängt das der anderen von Neuem an. Sie quietschen und brüllen. Sie schnappen nach Luft. Tränen laufen ihnen aus den Augen. Ihre Körper wanken. Ihre Kuchenteller scheppern über den Tisch, die Palme wackelt.
Die Wirtin mustert die beiden und grinst. Der weißhaarige Mann hebt den Kopf, sieht die Frauen an, streicht sich eine Strähne aus dem Gesicht und schmunzelt. Der Kuss des Liebespaares gelingt.
Die eingeklemmte Frau wird noch immer von Lachkrämpfen geschüttelt, als die Wirtin kommt, den Sessel festhält, von hinten gegen ihren Rücken drückt und ihr beim Herauskommen hilft. "Deine Sahnetorte!", ruft die Dicke. "Irgendwann müssen wir hier bleiben, weil wir nicht mehr aus der Tür kommen." - "Recht so", gibt die Wirtin zurück. "Dann macht ihr den Abwasch und ich hab mal frei!" Die Wirtin bekommt ihr Geld. Dann öffnet sie die Tür und hebelt für den Rollstuhl den zweiten Flügel auf. "Also denne, bis morgen, ihr beiden!" - "Bis morgen, altes Luder!" Ein frischer Wind weht in die Kneipe. Der Regen hat aufgehört.
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