Neuigkeiten aus Klagenfurt: Öl im Getriebe
Beim diesjährigen Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb haben sich die Schriftsteller, die Jury und das Publikum auf die Bedingungen des Fernsehens eingelassen.
Bislang hat Ernst A. Grandits das Klagenfurter Wettlesen moderiert, mit gravitätischem Minimalismus. Mal bewegte er seinen Kopf huldvoll nach links, mal huldvoll nach rechts, mit voller Theaterstimme las er die Namen der Teilnehmer und Jurymitglieder vor, das war es schon. Auch das war bis zu diesem Jahr der Bachmannpreis: eine Veranstaltung, die um den heiligen Ernst der Textzentriertheit herumgebaut war - nur der vorgelesene Text sollte sprechen, nur über ihn sollte dann in den Diskussionen gesprochen werden. Ein hehrer Anspruch, inklusive der dabei üblichen Umsetzungsprobleme. Dass viele Texte unter der Bedeutungsschwere der Inszenierung einknickten, dass das Gravitätische längst von Ironien und Selbstparodien durchsetzt war - Höhepunkt: der Künstlermythen dekonstruierende Vorstellungsfilm von Kathrin Passig vor zwei Jahren -, kann man inzwischen in den Archiven nachlesen.
Nun moderiert also Dieter Moor. Deutliche Gesichtszüge, wie die Kamera sie liebt, manchmal etwas Lausbübisches im Blick, man kennt ihn von "Titel, Thesen, Temperamente". Moor fragt treuherzig in die Jurorenrunde: "Wer will als Erster?" Er fasst Debatten kurz zusammen und kommentiert manche Beiträge mit "schön gesagt" oder "eine deutliche Aussage". Bei zerrupften Autoren erkundigt er sich: "Geht es Ihnen gut?" Er strahlt Lockerheit aus, betont höchstens einmal zu oft, dass er in dieser Runde literarischer Experten nur der Laie sei. Und er lädt - große Neuigkeit! - die während der Lesung am Rand postierten Autoren mit großer Geste dazu ein, während der Debatte in der Mitte der Jurorenrunde Platz zu nehmen. Niemand soll sich ausgeschlossen fühlen.
Das alles ist immer noch weit entfernt von Tschingderassabum und Entertainment. Gerüchte machten in Klagenfurt die Runde, ein Deutschland-sucht-den-Superautor-Szenario sei im Gespräch gewesen. So ist es nicht gekommen. Aber zusammen mit vielen anderen größeren und kleineren Änderungen bedeutet das alles doch ein vollkommenen verändertes Klagenfurt-Gefühl. Am Ort des Geschehens, dem ORF-Aufnahmestudio in der Kärntner Hauptstadt, fühlt man sich plötzlich nicht mehr so wohl, weil man als Zuschauer erkennbar nur Staffage für die Kamera ist. Dagegen funktioniert die Übertragung viel besser. Statt einer leicht verschwitzten Seminaratmosphäre sieht man im Fernseher nun eine dezent loungige Talkshowrunde. Ein klein wenig zugespitzt kann man sagen: Während bislang die Live-Situation das Klagenfurt-Ereignis war, findet nun das eigentliche Klagenfurt im Fernsehen statt. Darauf ist alles ausgerichtet, Preisentscheidungen zur Prime Time am Samstagabend um 20.15 Uhr eingeschlossen. Und wer sich wirklich körperlich an den Wörthersee begibt, hilft damit nur bei der Produktion dieser Bilder.
Ist Klagenfurt nun nicht mehr Klagenfurt? Wahrscheinlich war es eher schon immer so gewesen, dass das tatsächlich verwirklichte Ereignis des jeweiligen Jahres nur den etwas müden Abklatsch einer zuvor erträumten Feier aus literarischen Entdeckungen und pfingstlichen Geisterscheinungen darstellte. Außerdem, wer weiß schon, was die Neuerungen wirklich zu bedeuten haben? Bedeuten sie, dass der Literaturbetrieb die Diskurshoheit von der Literatur an das Fernsehen abgibt? Ein Jahr ist zu wenig, um sich da eine fundierte Meinung zu bilden.
Die Rahmenbedingungen haben sich jedenfalls geändert. Der Literaturbetrieb hat nicht mehr das Selbstbewusstsein - oder die Chuzpe? -, Sand im Getriebe des öffentlich-rechtlichen Fernsehens zu sein. Als Maschine zur Entdeckung junger Talente hat der "Bewerb", wie der Wettbewerb neuerdings österreichisch heißt, schon länger ausgedient; sehr viele der antretenden Autoren hatten vorher schon Buchverträge. Nun schickt sich die Veranstaltung also an, sich in Richtung eines weiteren Instruments zur Erzeugung medialer Aufmerksamkeit für die deutschsprachige Literatur zu wandeln, neben Buchpreis, Elke Heidenreich und Preis der Leipziger Buchmesse. Beim Buchpreis kann der Leser das gute Buch für den nächsten Urlaub abgreifen, bei Heidenreich die leicht peinlichen Schmöker fürs verregnete Wochenende, und bei Klagenfurt kann er sich in Sachen Up-to-date-Sein einen Überblick verschaffen, was alles noch zu lesen möglich wäre.
Wenn man direkt auf die Autoren guckt, kann man diese Veränderungen auch ganz anders erzählen: Vielleicht bedeuten sie nur eine notwendig gewordene Anpassung an den von ihnen längst erreichten Stand der Professionalisierung. In Klagenfurt lesen keine verhuschten jungen Frauen mehr, keine Möchtegern-Junggenies und auch keine irgendwie lichtscheuen Gestalten, die man deshalb dafür bestaunt, dass sie zehn Meter von ihrem Schreibtisch entfernt sofort lebensuntüchtig wirken. Stattdessen wird in Klagenfurt perfekt intoniert, durch Präsenz überzeugt und vor allem vorher sorgfältig überlegt, wie man auftreten will. Vorlesen können die Autoren durch die Bank erstaunlich gut - es hat sich eben herumgesprochen, dass man mit Auftrittsverweigerungen inzwischen keine Schnitte mehr machen kann und Lesungshonorare zu den wichtigsten Einkünften im Schriftstellerberuf gehören.
Wenn das mit der Selbstinszenierung too much wirkt, stört es. So wie bei der Autorin Dagrun Hintze, deren Auftritt leicht ins Sabinechristiansenhafte verrutschte. Allzu selbstbewusst sollte man als Autor auch nicht Hoheit über die Lesesituation reklamieren, das musste Ulf Erdmann Ziegler erfahren, der erst mal den Tisch verschob und das Publikum ermahnte, doch den verteilten Text beiseite zu legen und einfach der Erzählung zuzuhören. Aus dem Rahmen zu fallen kommt nicht mehr gut an. Ulf Erdmann Ziegler ist dieses Jahr der Autor, der, obwohl sein Text bei genauerer Betrachtung eigentlich über allen Preisen stand, am Schluss ganz leer ausgeht (im vergangenen Jahr war das Jochen Schmidt).
Honoriert wurden dagegen dieses Jahr gut vorbereitete, aber zurückhaltend durchgeführte Auftritte junger Männer, die mit sorgfältig gearbeiteten, originellen Geschichten antraten. Konsensfähig ist derzeit offenbar der unanstrengend intellektuelle Autor, der sich fürs Untragische entschieden hat, nicht mit Programmatiken auftrumpft und dafür heimlich, still und leise gut durchdachte Texte produziert. Warum dagegen solche Erzählerinnen wie Heike Geißler, Sudabeh Mohafez oder Anette Selg durchs Preisraster fallen, ist nicht ganz klar. Vielleicht sind sie zu nah dran an ihren Figuren.
Die Aufgabe der Jury ist bei diesen Veränderungen nicht leichter geworden. In die vom Moderator, den Kamerabewegungen, aber auch von den Autoren gut geölte Maschinerie des Ablaufs müssen die Juroren die Störungen hineintragen, die Außenperspektiven, die Momente von Geistesgegenwart. Einmal, beim späteren Preisträger Tilman Rammstedt, ist das geglückt - als die Jurorin Ursula März klarmachte, dass ein mit Pointen gespickter Text nicht per se minderwertig sein müsse; Rammstedt (1975 geboren, Mitbegründer der Lesebühne Visch & Fers, Musiker bei der Gruppe Fön) erzählt darin von der tragikomischen Trauerarbeit eines Enkels nach dem Tod eines Großvaters. Das war von der Jury gut gegen Vorstellungen gesetzt, nach denen preiswürdige Texte irgendwie raunend sein müssen.
In vielen anderen Fällen verpasste die stets sehr textimmanent argumentierende Jury aber die Chance, einmal etwas grundsätzlicher über den gegenwärtigen Stand von Literatur zu debattieren. Das betraf vor allem den Schweizer Autor Pedro Lenz, dessen Schriftstellermodell sich so erkennbar an den Typus des sprachmanischen Suadavorträgers anlehnte, den man noch vor wenigen Jahren mit dem Namen Thomas Bernhard gut umrissen fand. Was an diesem Typus noch Spaß bringt, wo er überholt erscheint, weil er aus seinen Lebensverletzungen eine Sprachshow macht, das wäre gut zu diskutieren gewesen. Und sowohl bei Thorsten Palzhoff als auch bei Ulf Erdmann Ziegler hätte man das literarische Arsenal von Möglichkeiten einmal durchleuchten können, historische Erfahrungen zu verarbeiten; Palzhoff schrieb über die postkommunistischen Mythenproduktionen in Bulgarien, Ziegler über die so nah-ferne Vergangenheit des bundesrepublikanischen Einfamilienhausbaus in den Sechzigerjahren. Die Debatten waren aber immer so immanent! Texte in außerliterarische Kontexte einzuordnen scheint unter den Klagenfurter Bedingungen nicht leicht möglich zu sein. Bei Ziegler verstieg sich die Jury stattdessen zu hanebüchenen Generation-Golf-Vergleichen.
Der Moderator Dieter Moor bezeichnete die Jury um ihren neuen Vorsitzenden Burkhard Spinnen einmal als Ensemble. Vielleicht ist es das. Die Juroren veranstalteten ein Kammerkonzert aus Einzelstimmen. Die gegenwärtigen Kontroversen in der Literaturkritik repräsentierten sie nicht. Aber auch in den Feuilletons muss man nach ihnen ja eher suchen. Möglicherweise ist es also unfair, ausgerechnet bei den Live-Bedingungen von Klagenfurt Debatten zu fordern, die die deutschsprachige Literaturkritik selbst aus ihren geschützten Redaktionsräumen heraus derzeit nicht hinkriegt.
Einen wunderbar schön bescheuerten Moment gab es dieses Jahr in Klagenfurt auch noch: die Ermittlung der Preise. Auf dem neuesten technischen Stand - mit Touch Screens und Computerunterstützung - wurde das altehrwürdige Schacherspiel des Literaturbetriebs als Spannungsevent dargeboten. Falls jemand gedacht haben sollte, dass das ziemlich schräg und der hehren Literatur unangemessen sei: Das ist bei allen Jurys so! Nur eben nicht öffentlich. In dieser Hinsicht leistet Klagenfurt weiterhin geradezu Aufklärungsarbeit.
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