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Neues vom Leben auf der Tragfläche

Großes Talent oder Scharlatan? Der junge russische Theaterautor Alexej Schipenko ist voll auf der Höhe der Zeit, sein Stück „Poljot“ bewegt sich mit wenig Text und radikalem Blödsinn in noch höheren Höhen  ■ Von Esther Slevogt

Was soll man jetzt dazu sagen? Ein Theaterkritiker will schließlich was zu kritisieren haben. Aber hier gab's kein Stück. Vom Text, den man sich brav zuvor zum Lesen im Theater abgeholt hatte, waren gerade mal ein paar Passagen übriggeblieben. Und statt seines Stückes tauchte am Schluß der Autor selber auf der Bühne auf. Im verschlissenen Bademantel und lange wortlos. Alexej Schipenko, Jahrgang 1961 und Theaterautor. Für die einen ist der Vielschreiber ein großes Talent, für die anderen ein überschätzter Scharlatan.

Auf jeden Fall füllt Schipenko gekonnt eine Marktlücke aus: junger Autor und Russe dazu. Und junge russische Autoren, die voll auf der Höhe der Zeit sind (oder zumindest so tun), gibt es nicht. Russische Autoren sind im hiesigen Bewußtsein entweder ziemlich alt oder ziemlich tot, schreiben entweder über den Kirschgarten oder über den Archipel Gulag. Da kommt Schipenko – dessen Tiefsinn eher eine Pose ist (über die er selber lacht) und dem Janis Joplin letztlich nähersteht als Anna Karenina oder Jelena Bonner – wie gerufen. Auch, weil er eine Sehnsucht erfüllt nach der osterweiterten europäischen Kulturlandschaft. Am Schluß darf Schipenko in der Baracke des Deutsche Theaters dann den letzten Satz des Abends sagen, für den der Regisseur Valerij Bilschenko verantwortlich war: „Als ich klein war.“

Der Deutsche denkt zu viel und verträgt nichts

„Als ich klein war, fühlte ich, wie die Welt zerfiel und sich daraus Eines absonderte, und dieses Eine war ich, ich war dieses Eine, was gleichzeitig alles war.“ So hatte es 140 Minuten vorher begonnen. Doch da sprach Siegfried. Ein Deutscher, wie schon der Name sagt. Ein Deutscher, der zuviel denkt, aber nichts vertägt. Der den Wodka, den er trinkt, gleich wieder auskotzt und irgendwie vom Fliegen träumt. Es geht ihm ziemlich schlecht auf der Matratze, wo er in langen Unterhosen lebt und leidet. Von dort locken ihn dann Kurdy und Murdy, zwei aberwitzige Phantasietürken, auf die Tragfläche einer riesigen Flugzeugattrappe. Da geht es ihm dann besser – und dem Zuschauer auch. Doch davon später.

„Ich habe keine Botschaft“, sagte Schipenko zwei Tage vorher, „meine Botschaft ist eine Atmosphäre, und manchmal muß ich dann eben viele Seiten schreiben, um diese Atmosphäre zu schaffen. Dann kann ich das Geschriebene wieder wegschmeißen.“ Und diese Atmosphäre sei das Leben auf der Tragfläche. Weil wir alle auf der Tragfläche leben. Wer ankommt, ist tot, oder so ähnlich.

Alexej Schipenko stammt aus einer Gegend, in die kaum je ein Westler seinen Fuß setzte. Er wurde in Stawropol geboren, am Rande des Kaukasus. Jetzt spielt man seine Stücke in Zürich, Luxemburg und Berlin. Mit zwanzig kam er nach Moskau, mit 22 schrieb er dort sein erstes Stück und machte ansonsten alles, was Spaß machte und verboten war. Im wesentlichen hieß das: Rockmusik hören – und machen. Das war nicht politisch, aber schick. Und als es in Rußland nicht mehr verboten war, westliche Musik zu spielen, und alle bloß noch Geld verdienen wollten, da war es für Schipenko dort schlicht langweilig geworden. Sagt er jedenfalls.

Seit 1992 lebt er in Berlin, wo schon einige seiner vielen Stücke zu sehen waren. In der Schaubühne, in der Volksbühne und in der Baracke des Deutschen Theaters. 1997 war es „Suzuki“, und jetzt sollte es „Poljot“ sein, zu deutsch „Der Flug“, die Bearbeitung eines anderen Stückes, das „9000 Meter über der Erdoberfläche“ heißt. Da turnen zwei Männer in 9.000 Meter Höhe auf den Tragflächen eines Flugzeugs herum, beobachten die Fluggäste, besonders die Frauen, und bedauern, daß die Bordtoiletten keine Fenster haben. („Eine schlafende Frau ist schön, eine absondernde Frau ist doppelt schön.“) Sie machen viele große Worte über das viel zu kleine Leben. Über das Abendland an sich und vieles, was in der Literatur gut und teuer ist. „Ich sehe Bilder, keine Worte. Worte sind leer“, hat Schipenko schließlich gesagt, als wir uns in der Kantine des Deutschen Theaters trafen. Und da kann man nur zustimmen.

Die großen Worte wurden für den Abend in der Baracke des Deutschen Theaters gestrichen. Und siehe da, Schipenkos Stück kommt eigentlich ganz gut ohne Schipenkos Worte aus. Auf keinen Fall aber ohne Kurdy und Murdy, alias Aykut Kayacik und Adnan Maral. Wie zwei anarchistische Aliens landen sie auf der Szene, haben umgebundene Schnurrbärte, viele Schichten orientalischer Klamotten und packen auf der Tragfläche in irrsinniger Geschwindigkeit ihre Sachen aus zwei Koffern: Gebetsteppiche und anderen Plunder. Dabei reden sie ein Kauderwelsch, das türkisch klingt, aber bestimmt kein Türkisch ist. Ab und zu ein paar Erkennungsworte: „AAH, Aischäää! Soromantik!“ Und würden sie behaupten, daß sie Shakespeares Hamlet spielen, man würde auch das glauben. Sinnlos, hier nach irgendeinem Sinn zu suchen, man kann sich eigentlich bloß dem radikalen Blödsinn hingeben. Damit stecken sie schließlich sogar den faden Siegfried (Martin Engler) an: Auf den Schuh gespuckt, Schuh am Hosenbein glattpoliert – und losmarschiert auf der Tragfläche, von der aus man den besten Überblick über die Welt als Ganzes hat.

Ein höchstpersönlicher Öst-Westlicher Divan

Schwer zu sagen, ob hier überhaupt ein Regisseur vonnöten war. Des Stückes hatten sich die beiden Schauspieler schnell entledigt, und auch der Regisseur hatte wohl nicht viel zu sagen. Am Ende versucht Bilschenko doch noch mal, ein bißchen Regie zu führen, und steckt die beiden Helden in eine Engelstracht. Jetzt kann man sogar verstehen, was sie sagen, bloß interessieren tut das nicht. Das große Flugzeug kommt zwar in Bewegung, doch es hebt nicht ab.

„Theater ist eine absterbende Kunst“, sagt Schipenko. Die, für die er schreibt, gehen nicht ins Theater. Und die ins Theater gehen, verstehen ihn nicht. Sowieso gibt's noch keine Methodologie, wie seine Stücke zu spielen seien. Vielleicht in zweihundert Jahren. Wie bei Shakespeare, da hat es dreihundert Jahre gedauert, sagt er in aller Bescheidenheit.

Nun hat er erst mal einen Roman geschrieben: „Das Leben Arsenijs“, gerade bei Suhrkamp erschienen. Ziemlich dick und teuer, aber schon ein Bestseller: „Die verkaufen 50 Stück am Tag.“ Ein Mann, Arsenij eben, wird aus Versehen von seinem Vater begraben. Doch er stirbt nicht, sondern wacht als ein anderer in New York wieder auf, als Jack Walden nämlich, und die Geschichte bereitet sich nun auf Schipenkos höchstpersönlichem Öst-Westlichem Divan aus. Nowosibirsk oder New York, das ist hier die Frage. Wie so oft in seinen Stücken auch. In Amerika ist er noch nicht gewesen. Aber sein Agent trifft nächste Woche Quentin Tarantino in New York. Wegen des Romans. Oder wegen einer ganz anderen Geschichte.

„Poljot“, heute, 20 Uhr, Baracke

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