Neues Kammerpop-Album von Julia Holter: Paris, Frankreich und Paris, Hilton
Auf ihrem dritten Album „Loud City Song“ zeichnet die Musikerin Julia Holter ein anspielungsreiches Porträt ihrer Heimatstadt Los Angeles.
Sie ist nicht ganz von dieser Welt. Julia Holter, die kalifornische Musikerin und Sängerin, scheint in ihrer Musik in unerreichbar fernen Sphären unterwegs zu sein. Auf der Bühne ist die 29-Jährige eine zarte Gestalt, konzentriert, zurückhaltend, professionell.
In ihren Videoclips läuft sie einsam durch verlassene Häuser und anonyme Stadtlandschaften, gerne mit einem rosafarbenen Kordelband in der Hand, dessen Textur sie ausgiebig begutachtet, bevor sie damit scheinbar naiv die Straßen verbindet.
Holter lebt in Los Angeles, einer der pulsierendsten und ausuferndsten Metropolen überhaupt. „Loud City Song“ heißt ihr neues Album, es ist ihr drittes nach „Tragedy“ (2011) und „Ekstasis“ von 2012.
Die Stadt selbst hat sie zum Thema dieses Albums gemacht. In ihren traumverlorenen Songs verwebt Holter die urbane Landschaft mit einem empfindsamen Mikrokosmos. „All the cities of the world / How can I escape you“ beginnt sie mit klarer, hoher Stimme und lädt ein zu einer musikalischen Flucht in eine entrückte Gegenwart.
Die Regisseurin Sofia Coppola, ebenfalls in Los Angeles wohnhaft, thematisiert in ihrem neuen Film „Bling-Ring“ die Jagd auf die Celebriies der Stadt. Auch für Holter ist die Nonstop-Beschäftigung mit Berühmtheiten der Ausgangspunkt für ihre Songs. Der Titel „Loud City Song“ sei wörtlich zu nehmen. „Los Angeles ist laut, laut, laut“, betont Holter im Gespräch. „Ich habe einmal mitbekommen, wie Paparazzi Paris Hilton verfolgten, nur um einen Schnappschuss von ihr zu machen. Sie sprangen plötzlich auf sie zu und jagten ihr gnadenlos hinterher. Das war brutal.“
Gossipgierige Cafégäste
Es gehört sich nicht für eine Julia Holter, in deren Musik immer das Flair der Vergangenheit mitschwingt, ihre Heimatstadt eins zu eins abzubilden. Holter verlegt ihre Empfindungen von Reality-TV und Werbewelt-Overkill lieber an einen anderen Ort und in eine andere Zeit.
„Loud City Song“ ist dem Paris des ausgehenden 19. Jahrhunderts gewidmet. Als die Prominenz vor den Augen der Öffentlichkeit auf den Boulevards promenierte und dies sogleich in den Cafés der Stadt kommentiert wurde und in der Klatsch-Gazette Gil Blas. Es ist auch das Paris der Gesellschaftsdame „Gigi“ – Protagonistin aus der gleichnamigen Novelle der französischen Schriftstellerin Sidone-Gabrielle Colette und die zentrale Figur einer US-Musicalverfilmung aus den Fünfzigern.
Inspirierendes Musical
Beides inspirierend für Julia Holter. „Als Kind schaute ich bei meiner Großmutter häufig den Musicalfilm ’Gigi‘. Ich liebte ihn aus ganz oberflächlichen Gründen. Als ich später den Roman von Colette las, fiel mir auf, dass ich mit Gigi noch heute etwas verbinde. Also entschied ich mich, einen Song über sie zu schreiben.“
Aus dem einen Song, ursprünglich für ihr letztes Album „Ekstasis“ komponiert, wurde schließlich ein Album. Alle Songs auf „Loud City Song“ entwickeln sich um eine, für Holter bemerkenswerte Szene im Musical: „Gigi geht in eine Bar und alle glotzen sie an.“
Julia Holter: „Loud City Song“ (Domino/Good to go)
Auf 45 Minuten breitet die kalifornische Musikerin ihre Gedanken um diese eine Filmsequenz aus: Gossip-gierige Cafégäste, Gigis Flucht in die Natur, die Vision einer anderen Gesellschaft. „Loud City Song handelt von der Suche nach Authentizität. Es geht darum, Wahrheit und Liebe dort zu finden, wo alles oberflächlich ist“, erklärt Holter.
Aller Selbstversunkenheit ihres Sounds zum Trotz ist Julia Holters musikalischer Zugang ein intellektueller. In den verblüffenden Arrangements spielt sie mit den filmischen und literarischen Referenzen. Mit Saxofon, Posaune, Klavier, Streichern und ihrer klaren, zwischen Gesungenem und Gesprochenen changierenden Stimme lehnt sie sich in Fragmenten an den Stil des Musicals an. Sie fügt alle neun Songs zu einer musikalischen Erzählung zusammen.
Dezente Nostalgie
Dabei lässt Holter das Album in eine dezente Nostalgie sinken, die den Klang der Bühne in ihre Musik holt. Sie bringt die uralten Effekte der Akustik in ein digitales Gewand, das Knarren des Klavierpedals, das Quietschen der Cellosaiten, das Scheppern der Schlagzeugbecken, selbst ein Cembalo taucht auf Holters neuem Album auf. Und doch ist ihre Musik befreit von jeglichem Retro-Kitsch, immer wieder dringen Klangfetzen von ihrem flirrenden Synthesizer-Pop durch das dicht produzierte Werk.
Ihre Vision der großen Stadt ist in eine eigenwillige Symbolsprache gehüllt. „Hats, all the hats of the world“, „birds are watching me“ oder „inquisitory birds“, singt sie und ruft Bilder von flüsternd lästernden Passanten wach, sei es im Pariser Jardin du Luxembourg oder am Sunset Boulevard in Los Angeles: Egal wo, die Paparazzi lauern überall, genau wie die Posaunen im Song „Horns Surround Me“. Die Bläser, eine marschierende Blaskapelle imitierend, verfolgen Gigi und Paris Hilton im hastigen Tempo. Holter singt dazu atemlos.
Sich selbst blendet Holter in ihrer Musik vollkommen aus. „Es sollte ein Album über die Gesellschaft, über Promis, Reality-TV Shows, und den Schlachtenlärm der Medien sein. Meine Musik ist nur vage mit meinem Privatleben verbunden. Ich will meine Auseinandersetzung mit der Gesellschaft allgemein fassen, dafür benutze ich Gigi.“
Eine Stadt mit Spirit
Auf „Loud City Song“ verbreitet sie Geräusche, die eine traumversunkene Stadt entstehen lassen, eine Stadt mit Spirit. Es ist ein Holter’scher Spirit, orchestral, brüchig, wechselhaft und zugleich romantisch und zurückgezogen. Wie das rosafarbene Band, das sie in ihrem Video durch die Straßen von Los Angeles wandern lässt. Julia Holter versieht die Anonymität der Großstadt mit menschlichen Regungen. In der Musik von „Loud City Song“ zoomt Julia Holter auf eine eigene, entrückte Sicht von Urbanität. „Meine Musik lässt sich gut per Kopfhörer hören.“
So entsteht ein Klang der Empfindsamkeit, sehr persönlich, weit weg vom Alltagslärm der Stadt, wie das Flimmern der Autolichter auf dem fernen nächtlichen Freeway, dem Holter mit „Loud City Song“ huldigt. „City Appearing“, singt sie sanft im Finale des Albums in eine psychedelisch-orchestrale Klangwolke hinein.
Befreiende Explosion
„Alles explodiert, wie eine Apokalypse und in der Suche nach Liebe und Wahrheit entsteht eine neue Stadt“, kommentiert sie ihr visionäres Happy-End. Dass ihre Musik mit den filmischen Referenzen doch wieder ganz nah an Hollywood dran ist, gibt sie unumwunden zu. Ohnehin sei ihre Musik dem genuinen Sound von Los Angeles entsprungen: „Als Musikerin kann ich in L.A. wie eine Eremitin leben und einfach nur mein Ding machen. Schließlich entsteht eine Musik, die keine Wurzeln hat, aber sehr fantasievoll ist.“ Wie wahr!
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten
Grünen-Abgeordneter über seinen Rückzug
„Jede Lockerheit ist verloren, und das ist ein Problem“
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Das Weihnachten danach
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Scholz fordert mehr Kompetenzen für Behörden