Neues Glas aus alten Scherben

■ Eine Band mit diesem Namen hat bis vor kurzem Rio Reisers Ton Steine Scherben gecovert – zum Leidwesen der Gralshüter-Fans. Jetzt geht die Band eigener, nicht gerade prickelnder Wege

Rio Reiser war Sänger der legendären Gruppe Ton Steine Scherben, und nach deren Auflösung, im Jahr 1985, Kopf der Rio Reiser Band. Er starb jung, mit 46 Jahren. Kurze Zeit nach seinem Tod kam es, wozu es kommen musste: Zu einer Art Wiedererweckung von Geist, Musik und Haltung dieses wohl radikalsten aller politisch motivierten Sänger Deutschlands – in Gestalt einer Band mit wohlbekannten Gesichtern und neuem Sänger.

Ende 1998 trafen die vier Ex-Mitglieder der aufgelösten Bands Dirk Schlömer (Gitarre), Funky K. Götzner (Schlagzeug), Jochen Hansen (Bass) und Jörg Mischke (Keyboards) den Sänger Michael Kiessling. Beeindruckt von der Ausdrucksstärke seiner Stimme, seiner charismatischen Erscheinung und Begeisterung für Reisers Songs, gründeten die fünf kurz darauf „Neues Glas aus alten Scherben“. Man wollte weitermachen, unbedingt.

Anfangs beschränkte sich die Band noch ganz auf das Repertoire ihrer Vergangenheit. So spielten sie auf Konzerten stets die alten Songs. „Keine Macht für Niemand“ und „König von Deutschland“ jedoch ließen sie bis heute aus. Denn kein Song steht mehr für die Band Ton Steine Scherben, für die Idee ihrer Existenz als „Keine Macht für Niemand“; kein Stück ist näher am Mythos Rio Reiser als „König von Deutschland“.

Trotz dieses selbstauferlegten Tabus haben viele der Ton Steine Scherben-Fans nach wie vor ein ambivalentes Verhältnis zur Band. In Internet-Foren treten bisweilen bissig-wütende Gralshüter des vermeintlichen Reiser-Erbes auf. Die „Logik“ der Argumentation ist immer dieselbe: Wie können die es wagen, die alten Sachen zu singen, jetzt wo Rio doch tot ist! Es ist anzunehmen, dass Reiser von den Tiraden seiner leberwurstmäßig beleidigten Verteidiger nur wenig halten würde. Begriff er sich selbst doch immer als Teil eines musikalisch-politischen Kollektivs, nie als solitären Star, obwohl er genau das natürlich schon zu Lebzeiten war. Und gegen das Weitermachen seiner ehemaligen Wegbegleiter hätte er, der mehr als einmal weiterrannte, obwohl er überall Wände sah, bestimmt am allerwenigsten gehabt.

Weitermachen, aber anders. Darum geht's beim gerade erschienenen Album „Rebellendisco“. Zweifellos muss man aus besonders stumpfem Holz geschnitzt sein, um auf ewig nur alte Songs zu spielen und bis zum Umfallen die bessere Coverband zu geben. Es scheint, als hätte das Quintett von der Beinahe-Starre dieser denkbar trostlosen Musikergegenwart genug gehabt, um die einzig vernünftige Konsequenz zu ziehen: neue Songs schreiben. Gesagt getan. Von zwei bekannten Ausnahmen abgesehen, haben „Neues Glas aus alten Scherben“ für ihr erstes reguläres Studioalbum ausschließlich neue Stücke eingespielt.

Als „romantische Rebellion gegen Lustfeindlichkeit und erdrückenden Alltag“ beschreibt Kiessling die Idee von „Rebellendisco“. Und tatsächlich materialisiert sich so etwas wie Rebellion in den Songtexten von „Wenn der Wind weht“, „Der Widerstand“ oder „Virus“. Bei letzterem wird dann auch klar, wo der Feind sitzt: wie gehabt, immer noch im eigenen Land. Der Teufel sitzt im System, ist das System.

In musikalischer Hinsicht indes klingt „Rebellendisco“ allzu vertraut. Das entsprechende Wort dafür lautet Rock. Geradlinig und funky, man könnte auch schnöde sagen. Ganz so als hätten die Musiker vor lauter Bodenhaftung sämtliche musikalischen Entwicklungen der letzten zehn Jahre schlicht verschlummert. Anders gesagt: Im Jahre 2001 lockt ein Album wie „Rebellendisco“ wahrscheinlich keinen entdeckungsfreudigen jungen Hund mehr hinterm Ofen hervor. Oder doch? Wie dem auch sei. Es rockt, wie gesagt: präzise, hart und gefühlvoll. Und manchmal wird's sogar romantisch.

Michael Saager

Altes Glas aus neuen Scherben spielen Samstag, den 3. November um 20 Uhr in der Alten Aula in Oldenburg und Samstag, 24 November im Bremer Meisenfrei.