Neues Buch von Jakob Arjouni: Kemal Kayankaya, Chamäleon
Heroindealende Islamisten, Exprostituierte und attraktionsgeile Verlage: Jakob Arjouni zeichnet ein schillerndes Frankfurt-Porträt.
Das 16-jährige Mädchen sitzt zitternd, nackt und mit Erbrochenem beschmiert auf einem Bett. Es ist die vermisste Tochter einer vermögenden Klientin, in deren Auftrag Privatdetektiv Kemal Kayankaya in eine Wohnung im Frankfurter Stadtteil Sachsenhausen einbricht, um das Mädchen nach Hause zu bringen.
Die Leiche des potenziellen Freiers liegt schon im Flur, als der Zuhälter Abakay staunend die Wohnung betritt. Kayankaya überwältigt ihn mit einem Schlag auf den Kopf und präpariert die Szene anschließend so, als seien Zuhälter und Freier übereinander hergefallen. Hier nimmt das Chaos seinen Lauf, welches Kayankaya auf den folgenden 200 Seiten entwirren muss, um nicht selbst hinter Gittern oder sonst wo zu landen.
Fast 30 Jahre sind seit dem ersten, über zehn Jahre seit dem letzten Kayankaya-Krimi vergangen. Mit „Bruder Kemal“ liefert Jakob Arjouni nun doch noch den fünften Fall des Frankfurter Privatdetektivs Kemal Kayankaya, in dessen Leben sich in der Zwischenzeit einiges verändert hat.
Nestwärme statt Zigarette
Die 1980er-Kanaken-Coolness hat der mittlerweile 53-jährige Privatermittler gegen die Nestwärme der Vierzimmerwohnung im bürgerlichen Westend eingetauscht, die er mit seiner Lebensgefährtin bewohnt. Der Deutsch-Türke, der sich zu jeder Gelegenheit eine Bierflasche zu öffnen pflegte und zu jedem Gedankengang eine Zigarette anzündete, ist jetzt Nichtraucher, trinkt kaum und denkt über das Vaterwerden nach. Ganz so spießig darf es dann aber auch nicht zugehen, so sind die aktuelle Auftraggeberin wie die Lebensgefährtin beide ehemalige Prostituierte, die den „Absprung“ geschafft haben.
Klientin Valerie de Chavannes ist ehemalige Escortlady, Bankierstochter und auch Künstlergattin, bewohnt eine Villa im Diplomatenviertel. Mit dem deutlichen Anstieg seiner Tagessätze hat auch die Klientel des Detektivs gewechselt. Nebenbei wird Kayankaya als Leibwächter eines marokkanischen Schriftstellers angeheuert, der auf der Buchmesse sein kontroverses Werk über Homosexualität in der arabischen Welt vorstellen soll.
Dass es sich bei den angeblichen Drohbriefen von Fundamentalisten nur um Marketinglügen des attraktionsgeilen Verlags handelt, wird Kayankaya schnell bewusst. Dennoch schwebt der Autor bald tatsächlich in Lebensgefahr, vor allem wegen seines Leibwächters, der seit der Einbuchtung des Zuhälters Abakay von heroindealenden Islamisten verfolgt und bedroht wird.
Der Rassismus ist 2012 deutlich subtiler als er noch in „Happy Birthday, Türke!“ war, dem ersten Krimi Arjounis von 1985, in dem Kayankaya von jeder Seite pseudobeleidigende Kümmel- und Müllabfuhrassoziationen einfuhr, bevor er mit sarkastischen Sprüchen und seinen Fäusten sich Gehör verschaffte. Dabei ist der Detektiv bei einer deutschen Pflegefamilie groß geworden und beherrscht nicht einmal die türkische Sprache.
Doch Aussehen und Name bringen Vor- und Nachteile mit sich, derer Kayankaya sich bewusst zu bedienen weiß. Zwischen der nervösen Ereignislosigkeit der Buchmesse, seinem aufgebrochenen Büro in der berüchtigten Gutleutstraße hinter dem Frankfurter Hauptbahnhof und der hippen Weinstube seiner Freundin Deborah schleicht das Chamäleon namens Kemal Kayankaya durch das schillernde Frankfurt, wo all dies auf engstem Raum nebeneinander existiert.
Autor Jakob Arjouni, 1964 selbst dort geboren, weiß Frankfurt glaubwürdig und zeitgemäß zu porträtieren. Ortsdetails spielen zwar nur am Rande eine Rolle, doch amüsant ist es allemal, wie die „provinzielle Würstchen- und Aktienstadt“ mal gebasht und dann wieder in Schutz genommen wird.
Sehr zentral ist hingegen die Schärfe der einzelnen Charaktere, des charmant-manipulativen Zuhälters, der verklemmt-wichtigtuenden Verlagspressefrau und der Exprostituierten, die nicht davon ablässt, ihre Ziele durch ihre sexuelle Attraktion zu erlangen.
Fesselnde Sozialstudie
Ohne an Leichtigkeit und Humor einzubüßen, weiß Jakob Arjouni eine Reihe von sozialen Existenzen realitätsnah zu skizzieren und seine Hauptfigur Kayankaya genau an deren Schnittstelle als erfahrenen Beobachter anzusiedeln. Dessen psychologisches Sezieren der Ereignisse baut direkt zu Beginn schon so viel Spannung auf, dass das Buch schnell und ohne Raum für eine konkrete Erwartungshaltung gelesen ist.
Insofern erscheint auch die Enttarnung des tatsächlichen Mörders am Ende mehr als Prolog denn als Höhepunkt, da inzwischen schon sehr viel Aufregendes passiert ist. Dass schließlich die menschliche Moral wieder Herr über das geschriebene Gesetz wird, passt wiederum gut zu jener Grauzone, in der sich Privatermittlungen nun mal abspielen.
Jakob Arjouni: „Bruder Kemal“. Diogenes Verlag, Zürich 2012, 240 Seiten, 19,90 Euro
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