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Neues Buch von Haruki MurakamiSeltsame Schwerelosigkeit der Welt

In „Erste Person Singular“ lässt Murakami eigene Erinnerungen aufleben. Die Erzählungen wechseln dabei zwischen Realität und Fiktion.

Der aus Japan stammende Autor Haruki Murakami, 2018 Foto: Eugene Hoshiko / AP

Haruki Murakami scheint sich in allen literarischen Formen gleichermaßen wohl zu fühlen. Mit dickleibigen Romanen hat er die lesende Welt beglückt, produziert aber mit großer Selbstverständlichkeit auch, wie in seinem neuesten Buch, Kurzgeschichten, die an der Oberfläche so wirken, als würde da einer nur völlig unangestrengt aus seinem Leben plaudern. Außerdem schreibt, oder vielmehr schrieb, Murakami auch Gedichte. Baseballgedichte. Sehr wahrscheinlich.

Mindestens vier Baseballgedichte hat er auf jeden Fall verfasst, denn sie sind in diesem Buch – in der Erzählung „Gesammelte Gedichte über die Yakult Swallows“ – abgedruckt, die davon handelt, dass der Ich-Erzähler in den siebziger Jahren beim Baseballgucken im Stadion Gedichte schrieb, diese als Büchlein im Eigenverlag herausbrachte und viele Exemplare, da sie sich nicht gut verkauften, an Freunde und Bekannte verschenkte. Heute seien die wenigen noch erhaltenen Exemplare dieses Gedichtbandes sehr viel wert.

Murakami-ExpertInnen werden wohl wissen, ob es dieses Buch mit Baseballgedichten tatsächlich gab. Kann gut sein; kann ebenso gut aber auch nicht sein. Es gibt genug in dieser hintersinnig mit „Erste Person Singular“ betitelten Textsammlung, das uns wiederholt daran erinnert, die Wahrheiten, die zwischen zwei Buchdeckeln stehen, nicht als deckungsgleich mit der Realität anzunehmen, sondern vielmehr als narrative Möglichkeiten zu betrachten.

Das Erzähler-Ich dieser Geschichten ist stets dasselbe: es heißt Haruki Murakami. In erster Person Singular erzählen die Texte von Menschen und Geschehnissen aus der Vergangenheit dieses Haruki Murakami, und oft liegt diese Vergangenheit schon so weit zurück, dass insgesamt durchaus der Eindruck entsteht, dass ein alternder Literat hier vor allem das Genre der autobiografischen Jugenderinnerung pflege. Oder eben sehr kunstvoll das pflegt, was sich aus einer Erinnerung machen lässt.

Viele der Erzählungen haben mit Musik zu tun

Wer, wie die meisten Menschen, über ein lediglich durchschnittliches Gedächtnis verfügt, weiß, dass von Ereignissen, die Jahrzehnte zurückliegen, schlaglichtartige Szenen, Stimmungen, auch einzelne Dialogzeilen im Hirn hängen bleiben, meist aber keine größeren, zusammenhängenden narrativen Strukturen. Murakami macht in diesen Erzählungen aus erhaltenen Fragmenten Literatur; mit den Mitteln, die dieser eben zur Verfügung stehen, darunter dem der demonstrativen Mischung von Realität und Fiktion.

Viele Erzählungen haben mit Musik zu tun, und die wundersamste von ihnen heißt „Charlie Parker Plays Bossa Nova“. Sie kolportiert einen Text, den der Erzähler als Student für eine obskure Literaturzeitschrift geschrieben habe: die Besprechung einer Platte mit dem Titel „Charlie Parker Plays Bossa Nova“, die im Jahr 1963 erschienen sei.

Das Buch

Haruki Murakami: „Erste Person Singular“. Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe. DuMont Buchverlag, Köln 2021, 224 Seiten, 22 Euro

Diese Plattenkritik – von der große Teile in der Erzählung wiedergegeben werden – sei vom Redakteur unkritisch als solche ins Blatt genommen worden, ohne dass er durchschaut habe, dass es sich gar nicht um eine echte Kritik handelte. (Charlie Parker war bereits 1955 gestorben, der Bossa Nova aber entstand erst in den Jahren danach.)

Viele Jahre später, geht die Geschichte weiter – und das ist ein in diesem Buch oft wiederkehrendes Element: der Widerhall von Ereignissen auf weit entfernten Zeitebenen –, gerät der Ich-Erzähler in einen New Yorker Plattenladen, in dem er tatsächlich eine Platte mit dem Titel „Charlie Parker Plays Bossa Nova“ findet; sogar mit einem Verzeichnis aller Tracks, deren Titel er sich einst selbst ausgedacht hatte …

Auf der Parallelschiene zur Realität

Dass der Erzähler nicht geistesgegenwärtig genug ist, diese Platte sofort zu kaufen, ist einerseits merkwürdig, andererseits aber ein deutliches Zeichen dafür, dass sich die Erzählung hier auf einer Parallelschiene zur Realität bewegt.

Ein weiteres typisches Verfahren: In der kleineren Erzählung „Crème da la Crème“, die davon handelt, wie der jugendliche Ich-Erzähler einst von einem Mädchen zu einem privaten Klavierkonzert eingeladen wurde, das aber gar nicht stattfand, wird diese an sich unspektakuläre Begebenheit zu einem Ereignis von surrealer Unerklärlichkeit.

Der einsame Weg zum angeblichen Konzertsaal, das akustische Ereignis eines vorbeifahrenden Reklameautos, die zufällige Begegnung mit einem alten Mann, der dem jungen Mann eine unlösbare Frage stellt – all das summiert sich atmosphärisch zu einer Erzählung, in der die Realität so mystisch überhöht erscheint, wie sie es manchmal eben tut, wenn man nur jung genug dafür ist. (Oder wenn man alt genug ist, verklärend auf seine Jugend zurückzublicken …?)

Und oft sind die Dinge, vor allem die Menschen, ganz einfach nicht, was sie scheinen. Exemplarisch dafür steht die titelgebende Geschichte „Erste Person Singular“. Darin zieht der Erzähler ausnahmsweise seinen besten Anzug an, um diesen einmal auszuführen, und wird in einer Bar beim friedlichen Cocktailtrinken von einer unbekannten Frau aggressiv beschimpft.

Die offensichtliche Erklärung – dass die Frau ihn für einen anderen hält – scheint der Erzähler nicht einmal zu erwägen; stattdessen verunsichert ihn die Begegnung nachhaltig. Und vielleicht liegt genau darin das Geheimnis dieser so seltsam schwerelos wirkenden und doch gleichzeitig ziemlich existenzielle Fragen berührenden Erzählungen: Solange wir nichts als gegeben hinnehmen, werden wir immer wieder von Neuem zutiefst von der Welt überrascht werden. Murakami lesend, scheint es fast so, als sei nichts leichter als das.

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