Neues Buch von Hardt und Negri: Was möglich ist
Die Verfechter der Multitude suchen in „Assembly“ nach Wegen politischer Emanzipation. Ihr Vorschlag: der Aufbau nicht souveräner Institutionen.
Vom Arabischen Frühling bis zu den Massenprotesten in Hongkong 2014 haben wir in jüngster Zeit zahlreiche Bewegungen und Aufstände erlebt, denen es um die Bedürfnisse und Wünsche der Menschen ging. Und doch ist es ihnen nicht gelungen, für dauerhafte Veränderung oder eine demokratischere Gesellschaftsform zu sorgen. Mit dieser Beobachtung eröffnen Michael Hardt und Antonio Negri ihr ebenso überzeugendes wie provokatives neues Buch mit dem Titel „Assembly“. Es greift diese Frage der „Wirksamkeit“ und das viel diskutierte „Führungsproblem“ innerhalb dieser Bewegungen auf und bettet beides in eine Analyse unserer heutigen gesellschaftlichen Realität ein.
Das bekannteste Buch der beiden Autoren, „Empire“, erschien zur Jahrtausendwende, als die Bewegung für eine andere Globalisierung auf die Straße ging. Es vertrat die These, Nationalstaaten seien nicht mehr in der Lage, die kapitalistische Produktion und Akkumulation, die wahrhaft global geworden waren, zu garantieren und zu regulieren, und die Souveränität habe sich auf die globale Ebene des Empire verschoben: auf ein Netzwerk supranationaler Organisationen, transnationaler Unternehmen, staatlicher und nicht staatlicher Akteure.
Eines der spezifischen Merkmale dieses Buchs war es, dass es mit dem brach, was Walter Benjamin und jüngst die Politologin Wendy Brown als „linke Melancholie“ beschrieben haben. Damit ist die Neigung einiger Linker gemeint, an politischen Vorstellungen festzuhalten – und sogar an dem Scheitern der Ideale –, statt bestehende Transformationsmöglichkeiten zu nutzen. „Empire“ hatte eine radikale Neukonzeption der Demokratie, ja des Kommunismus zu bieten und fungierte so als Gegengift zur linken Melancholie am vermeintlichen „Ende der Geschichte“.
Das entstehende Empire wurde als destruktiv beschrieben, doch das Buch widerstand der nostalgischen Sehnsucht nach früheren Formen von Herrschaft. Überdies behauptete es, die Multitude oder die Arbeitskräfte, von denen die postmoderne Weltwirtschaft angetrieben wurde, arbeiteten zunehmend auf kreative und kollaborative Weise und die Multitude selbst sei potenziell in der Lage, ein „Gegen-Empire“ zu schaffen und neue demokratische Formen sowie „eine alternative politische Organisation globaler Ströme und Austauschprozesse“ zu erfinden.
Wirkungsvoll werden
„Assembly“ führt fort, was Michael Hardts und Antonio Negris Bücher „Multitude“ (2004) und „Commonwealth“ (2009) begonnen hatten, nämlich einige der Argumente und begrifflichen Kategorien von „Empire“ weiterzuentwickeln. Die Autoren erläutern ausführlich die gegenwärtigen Perspektiven für eine Veränderung im Lichte der Bewegungen, die seit der globalen Krise von 2007/08 entstanden sind. Die einzelnen Kapitel sind durchsetzt von „Call and Response“, in denen darüber nachgedacht wird, wie sich die Multitude wirkungsvoller zusammentun kann. Genauer gesagt: wie sie „Macht übernehmen“ kann durch die Erfindung neuer institutioneller Formen und durch Kooperation bei der gesellschaftlichen Produktion.
Hardt und Negri geben eine ganz eigene Antwort auf das weithin beklagte Fehlen traditioneller Führungspersönlichkeiten in den Bewegungen. Sie begreifen das weitgehend als Folge einer antiautoritären Ablehnung hierarchischer Strukturen sowie als Symbol einer allgemeinen Krise der Repräsentation. Gleichwohl kritisieren sie überzeugend die, die einen „Horizontalismus“ fetischisieren, aber auch diejenigen, die nicht erkennen wollen, dass in scheinbar „spontanen“ Bewegungen durchaus eine Organisierung am Werke ist. Wir müssen, so sagen sie, die Rolle von Führung neu denken.
Sie schlagen vor, das traditionelle Verhältnis zwischen „Strategie“ und „Taktik“ umzukehren. Anführer galten oftmals als verantwortlich für die Strategie oder als in der Lage, „weitblickende Entscheidungen zu treffen“. Taktik hingegen galt als Sache der Graswurzelbewegungen, die oftmals auf kurzfristige Belange einer bestimmten Gruppe reagierten, jedoch in der Lage waren, aufgrund intimer Kenntnis ihrer unmittelbaren Umgebung zu agieren.
„Assembly“ behauptet nun, Führung solle sich heute auf taktische Erwägungen wie etwa die Reaktion auf drohende unmittelbare Gewalt beschränken. „Soziale Bewegungen und Strukturen demokratischer Entscheidungsfindung“ sollten derweil Verantwortung für die Entwicklung von Strategien und die Bestimmung des langfristigen Kurses übernehmen.
Michael Hardt/Antonio Negri: „Assembly“. Oxford University Press 2017, 366 S., 29,99 Euro.
Um die strategischen Fähigkeiten der Multitude zu stärken, schlagen Hardt und Negri vor, drei Ansätze miteinander zu verknüpfen. Erstens den „Exodus“ aus bestehenden Institutionen und die Schaffung neuer sozialer Beziehungen im kleinen Maßstab. Dieser „präfigurative“ Ansatz bestimmte zahlreiche Bewegungen seit den 1960ern, bei denen die Beteiligten mit Formen von Selbstverwaltung experimentierten. Zweitens einen „antagonistischen Reformismus“ oder einen „langen Marsch“ durch die Institutionen, bei dem man Rechte und Freiheiten erlangt, mit denen bestehende Machtstrukturen verändert werden. Am überzeugendsten ist das Buch in der Theoretisierung eines dritten Ansatzes. Nämlich „Hegemonie“ zu erlangen, indem man bestehende Institutionen stürzt und neue, „nicht souveräne“ schafft. Gemeint sind aus Koalitionen bestehende Institutionen, die „Gemeinschaft und Organisationen fördern“ und dabei helfen, Praktiken zu organisieren, Beziehungen zu gestalten und gemeinsam Entscheidungen zu treffen.
Das Gemeinsame
Hardt und Negri betonen, dass Projekte, die entsprechend dieser Prinzipien Institutionen schaffen, jeder Vorstellung widerstehen sollten, es gebe so etwas wie eine „Autonomie des Politischen“ oder die politische Dynamik lasse sich vom gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben trennen. Sie müssen vielmehr in die lohnförmigen und nicht lohnförmigen Netzwerke der Kooperation eingebettet sein, welche die heutige Produktion bestimmen. Dazu bedarf es dessen, was die Autoren als „Unternehmertum der Multitude“ bezeichnen.
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Dieser Begriff könnte durchaus zu Missverständnissen einladen. Er hat aber nichts mit dem „Sozialunternehmertum“ zu tun, das, wie Hardt und Negri bemerken, häufig Netzwerke der Kooperation und Solidarität marktförmig gemacht und oftmals neoliberale Angriffe auf den Sozialstaat begleitet hat. Ebenso wenig verstehen sie den Unternehmer im traditionellen Sinne als jemanden, der ein Risiko eingeht, sondern vielmehr als jemanden, der, im Anschluss an Joseph Schumpeters Verwendung des Begriffs, „neue Kombinationen“ oder neue Formen der Kooperation von „existierenden Arbeitern, Ideen, Technologien, Ressourcen und Maschinen“ schafft.
Auch hier vertreten sie einen antimelancholischen Ansatz: Ihnen zufolge deutet sich die Fähigkeit der Multitude, unternehmerisch tätig zu werden – Gemeinschaft zu fördern, Beziehungen zu gestalten –, bereits darin an, wie Arbeit heute beschaffen ist, nämlich wurzelnd in Kollaboration und einem hohen Maß an Selbststeuerung. Doch wenn man unternehmerisch werden will, muss man auch das zurückgewinnen, was Karl Marx als „fixes Kapital“ bezeichnet hat: die Produkte physischer und geistiger Arbeit, die zu Mitteln für den kapitalistischen Profit geworden sind.
Die Autoren behaupten: Der Aufbau nicht souveräner Institutionen der Selbstherrschaft und die Entwicklung eines Unternehmertums, das neue, mächtigere Formen der Kooperation produziert, bringen es mit sich, dass Privateigentum fortwährend durch „das Gemeinsame“ ersetzt wird, also den gesellschaftlichen Reichtum, „den wir teilen und dessen Verwendung wir gemeinsam regeln“.
Hardt und Negri setzen darauf, dass neue Formen des „gesellschaftlichen Unionismus“ auch neue Subjektivitäten schaffen, Menschen, die durch ihre Erfahrungen gemeinsamen politischen Handelns verändert werden. „Wir haben noch nicht erlebt, was möglich ist“, schreiben sie, „wenn sich die Multitude zusammentut.“
Aus dem Englischen von Andreas Wirthensohn
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