piwik no script img

Neues Album von TocotronicLiebe wird das Ereignis sein

Am 1. Mai erscheint „Das rote Album“ der Band Tocotronic. Ihre elfte LP ist ein Lexikon der Liebe geworden, ohne kitschig zu sein.

So romantisch kennt man die Jungs gar nicht. Bild: Michael Petersohn

Die rote Phase ist angebrochen im Reiche Tocotronic. Sie beginnt mit einer klingenden Bassgitarre und etwas Hall, einem treibenden Schlagzeugbeat, Snaredrum und Hi-Hat-Becken, sehr reduziert. Dann zackiger, fast staccatoartiger Gesang, in sanfte Chöre mündend: „Ba-ba-ba …“ Mit einem „Prolog“ läuten Tocotronic ihr neues Album ein, dessen Cover – 100 Jahre nach Malewitsch – ein schlichtes Viereck in roter Farbe zeigt.

Dass die tocotronische Farbenlehre, 13 Jahre nach dem „Weißen Album“, nun bei Rot angekommen ist, ist nicht unbedeutend. Bereits im Video zum „Prolog“ variiert die Band die Farbmotivik. Man folgt darin einer Frau, die herumirrt, sich zurückzieht, später einsam in der fremden Stadt herumstreunt. „Du zitterst noch und hörst in dich hinein/ Was könnte das Ereignis sein?“, singt Dirk von Lowtzow dazu. Ein blutroter Himmel breitet sich vor der Protagonistin auf. Dazu leuchtet der gesungene Vers in Rot auf: „Liebe wird das Ereignis sein“.

Die Liebe ist das zentrale Thema auf dem unbetitelten elften Album der prägenden deutschen Indie- und Diskursrockband der vergangenen Jahre „Es ist fast eine Art Konzeptalbum zum Thema Liebe“, sagt Sänger und Gitarrist von Lowtzow beim Gespräch, das er und Bassist Jan Müller der taz geben. Zum Albumdesign des Künstlers Jan Timme, sagt Bassist Müller: „Nachdem sich Liebe als Thema herauskristallisierte, bot sich das rote Artwork an. Und Rot ist natürlich auch die Farbe des politischen Kampfes. Nicht zuletzt geht es um Reduktion: streichen, verkürzen, auf den Punkt bringen. Das sollte sich auch im Design widerspiegeln.“

Die rote Phase als eine behutsame Zäsur der in Berlin beheimateten Band. Die einst typischen Tocotronic-Rockgitarren klingen noch stärker zurückgenommen als schon zuletzt. Nach der LoFi-Frühphase und dem nicht mehr ganz so breiigen, geerdeteren Sound des Erwachsenseins der Nullerjahre heißt es jetzt: Let there be Pop.

Sie klingen hoffnungsvoller, versöhnlicher

So klingen Synthesizer, prägnante Bassläufe, angedeutete Gitarrensoli, eine hohe, zarte Stimme an. Neben diesen Songs mit deutlichen Achtziger-Referenzen stehen auf dem „Roten Album“ auch einige Liedermacher-/Chansonstücke. Zusammengearbeitet haben Tocotronic, die von Arne Zank am Schlagzeug und Rick McPhail an der zweiten Gitarre komplettiert werden, erneut mit dem Produzenten Moses Schneider. Der hatte bereits die Berlin-Trilogie – die Alben „Pure Vernunft darf niemals siegen“, „Kapitulation“ und „Schall und Wahn“ – sowie das Vorgängeralbum „Wie wir leben wollen“ von 2013 aufgenommen und gemischt.

Das Album

Tocotronic: „Das rote Album“ (Vertigo Berlin/Universal). VÖ 1. Mai.

Tocotronic haben, und das überrascht vielleicht am meisten, ein sehr positives Album aufgenommen, was auch dem Thema Liebe geschuldet ist. Hießen auf vergangenen Alben die Eröffnungsstücke „Mein Ruin“ oder „Eure Liebe tötet mich“, so klingt es nun hoffnungsfroher, versöhnlicher. „Das Album ist bestimmt sanfter als andere von uns“, sagt Müller, „wir standen bisher als Band vielleicht eher für Abgrenzung und Verneinung.“ Von Lowtzow ergänzt, man habe das Thema ernst nehmen wollen, als schreibe man ein „Lexicon of Love“. Was es zu vermeiden galt, sei: Kitsch.

Ab und an ist der kitschige Abgrund nah – umso erstaunlicher, wie elegant Tocotronic ihn umkreisen. Das Lied „Haft“ – mit der Hookline „Ich hafte an Dir“ – wäre ein solches Beispiel.

Zunächst sehr trivial klingend, erwächst bei mehrmaligem Hören ein deutungsoffener, kluger Song daraus, der auch an der Berliner Volksbühne in einer Pollesch/Von-Lowtzow-Inszenierung gerade interpretiert wird: „Weder Gewalt/ Noch Leidenschaft/ Was uns eint, ist Haft/ Eine geringere Kraft/ Was uns eint, ist Haft.“

„Was zur Hölle ist das denn jetzt?“

Auch „Zucker“, ein Lied, das Männlichkeitskonstruktionen infrage stellt, erschließt sich erst nach mehrmaligem Hören. In seiner Unbeschwertheit erinnert es an They Might Be Giants oder die Smiths. „Ich mag es grundsätzlich, wenn jemand während des Hörens aufschreckt und sich fragt: ’Was zur Hölle ist das denn jetzt?‘ Das sind Zäsuren im Hören und in der Wahrnehmung“, sagt von Lowtzow dazu.

Die textliche Könnerschaft zeigt sich auch auf der zweiten, der politischen Ebene. Der Song „Die Erwachsenen“, von Eighties-Synthies eingeleitet, beinhaltet die Sicht eines rebellischen Teenagers auf die Erwachsenenwelt. Hier verstört die behutsam vorgetragene Refrainzeile „Wir sind Babys/ Sie erziehen uns nicht“ zunächst. „Der Song ist dreimal um die Ecke gedacht und sollte trotzdem In-your-face sein“, sagt von Lowtzow. In der Tat wird er da spannend, wo er sich gegen die eigenen verpassten Möglichkeiten, der unversuchten Revolten wendet und wo sich jugendliche Unvernunft unwillkürlich zur Vernunft verkehrt: „Man kann den Erwachsenen nicht trauen/ Ihr Haar ist schütter/ Ihre Hosen sind es auch/ Wir werden viele Mauern bauen/ Denn sie sind grauenvoll.“

So gibt es durchweg auch politische Lesarten der Songs, das Folgestück, „Rebel Boy“, beginnt mit den Zeilen: „Ich werde nicht gebraucht/ Die Zukunft gibt es nicht/ Doch hat man mir bereits/ Von dir berichtet“. Das No Future des Punk findet sich hier, leicht modifiziert, wieder: „Ich könnte mir vorstellen, dass in dem Song eine Weltsicht geschildert wird, die gerade viele junge Menschen haben, zum Beispiel in Berlin“, sagt von Lowtzow. „Die Stadt ist ein Sammelbecken für junge Leute aus Ländern mit hoher Arbeitslosigkeit, Spanien oder Griechenland. Genauso könnte es aber auch ein desillusionierter, alter Mensch sein, der da spricht.“

Das Gesagte ist nicht das Gemeinte

Deutlich politisch konnotiert ist „Solidarität“, ein Song fast brechtscher Prägung, der Empathie für Outsider und Ausgegrenzte postuliert. „Anlass für das Lied waren die Berichte über die pogromartige Stimmung in Hellersdorf im Sommer 2013“, sagt von Lowtzow, „im Song transferiere ich das auf eine persönliche Ebene.“

Für Müller fällt das Stück deshalb nicht aus dem Konzept heraus: „Für mich erweitert das den Begriff der Liebe“, sagt er, „ich nehme das gar nicht als explizit politischen Song wahr, man kann ihn ja ganz unterschiedlich deuten.“ Und von Lowtzow ergänzt: „Solidariät ist von den Stücken beeinflusst, die Nico in den späten Sechzigern mit Jackson Browne aufgenommen hat.“

Hamburger-Schule-Urgestein Kristof Schreuf formuliert die These, Tocotronic bewege sich auf dem roten Album weg vom Diskursrock. Wenn man die Betonung dabei auf „Rock“ legt, mag das stimmen. Und es gibt auf dem roten Album sicher auch eine Entwicklung hin zur Sagbarkeit, zur Klarheit. Andererseits: Zu sicher sein, dass das Gesagte auch das Gemeinte ist, sollte man sich bei von Lowtzows Texten nie.

Ein verstecktes Date mit Dirk

Musikalisch hat das rote Album einige echte Hits, wirkliche Knaller. Aber auch zwei, drei Songs, die man nicht so registrieren würde. Wären da nicht die Texte. Die sind so grandios wie vielleicht noch nie bei dieser Band. Es sind Hymnen auf die Zuverlässigkeit, an die Komplizenschaft in der Liebe, an Freundschaften. Es geht darum, sich sachte neu zu erfinden, ohne den Pop neu zu erfinden.

Entlassen wird man aus dem roten Album mit einem „Hidden Track“. Das Ich, das darin spricht, hat ein „Date mit Dirk/ am ersten Frühlingstag“. Völlig plausibel findet man sich kurz darauf tief in der deutschen Romantik wieder, auf dem „feuchten, modrigen, vom Tau liebkosten Wiesengrund“ (ein kleiner Gruß an Adorno, dessen „Minima Moralia“ die Band während des Produktionsprozesses diskutiert habe).

Die Beine sind nun von Mücken zerstochen. Dirk wächst derweil Plasma aus der Hand. Und das Ereignis ist das neue Tocotronic-Album.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare

Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

Wir machen Silvesterpause und schließen ab Montag die Kommentarfunktion für ein paar Tage.
  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!