Neues Album von Sänger Nick Cave: Mutterseelenallein auf der Bühne
Auf seine alten Tage wirkt der australische Sänger Nick Cave entspannter und der Menschheit zugewandter – auch auf seinem neuen Album.
Vom misanthropischen Zürner, der Inspiration bei alttestamentlichen Schauermärchen sucht, zum zugewandten Menschenversteher: Die Wandlungen des australischen Rockstars Nick Cave über die Jahrzehnte sind dann doch erstaunlich. Der 63-Jährige mit einem Faible für düstere Abgründe macht dieser Tage jedenfalls eine deutlich sympathischere Figur als noch vor 15 und vor 25 Jahren: Damals blieb Cave bisweilen arg abonniert auf seine Rolle als böser Mann – nicht zuletzt aufgrund der vielen toten Frauen, die seine Songs aus jenen Karriereabschnitten bevölkerten.
Auch wenn die Musik zu Caves Gothic-Texten oftmals toll war. Inzwischen scheint der Herrenanzugträger nicht zuletzt über sich selbst lachen zu können. Unlängst erzählte er der Financial Times, dass die von ihm selbst designte erotische Tapete, die er in seinem kuriosen Onlineshop Cave Things feilbietet, bisher keinen einzigen Käufer gefunden hat: „Ich bin wirklich stolz, dass ich etwas geschaffen habe, was absolut niemanden interessiert.“
Wo Cave in der Vergangenheit bisweilen prätentiös, manchmal auch reaktionär wirkte, scheint in seinem zurückgelehnten Entertainerdasein dieser Tage lebenssatte Reflektiertheit durch – ersichtlich etwa am Handling seiner Website The Red Hand Files, auf der er seit gut zwei Jahren den empathisch-philosophischen Briefkastenonkel gibt und das auf zugewandt-freundliche, bisweilen ziemlich lustige und gelegentlich kontroverse Weise.
Wortklauberei der BBC
Der neueste Eintrag beschäftigt sich etwa mit der Zensur des Weihnachtssongs „Fairytale of New York“ durch die britische BBC. Der ehrwürdige Radiosender hat seit diesem Jahr im Stück der Folk-Punk-Band The Pogues, dem meistgespielten in Großbritannien – und es gehört nicht nur in Caves Augen zum Besten seines Genres –, das Wort „faggot“ durch ein in diesem Kontext sinnfreies „haggard“ ersetzt. Wenn der Begriff für manche Hörer:innen so anstößig sei, hätte der Sender den Song lieber ganz weglassen sollen und ihm damit zumindest seine Würde und den „outlaw spirit“ gelassen, moserte Cave laut und deutlich.
Nick Cave: „Idiot Prayer: Alone At Alexandra Palace“ (AWAL/Rough Trade)
Der gleichnamige Konzertfilm soll am 14. Januar 2021 zu sehen sein.
Darüber hinaus ist das Spektrum der Fragen, die er in seinem Onlineforum bereitwillig beantwortet, breit. So beleuchtet er die Fallstricke und Vorteile von Schüchternheit: Dass der Zustand sein kann wie ein Orchester, das sich aufeinander einschwingt, dass Schüchternheit lähmen, aber auch den Weg zu Neuem ebnen kann. In dem Zusammenhang plaudert er auch über die „mutual shyness“, die sein erstes Date mit seiner späteren Frau Susie Bick begleitete.
Immer wieder Diskussionsgegenstand ist auch, dass Cave nichts von einem kulturellen Boykott Israels hält, den die besonders in Großbritannien aktive Kampagne BDS (Boycott, Divestment and Sanctions) unverfroren propagiert; unter anderem indem sie Popkünstler wie Nick Cave unter Druck setzt, nicht in Israel aufzutreten. Und natürlich ist Verlust immer wieder ein Thema – Cave hat sehr offen den tragischen Unfalltod seines 15-jährigen Sohns im Jahr 2015 betrauert, unter anderem in Songs auf den Alben „Skeleton Tree“ (2016) und „Ghosteen“ (2019) und im Dokumentarfilm „One More Time With Feeling“ (2016).
Intensive Performance
Offenbar bekam Cave in seiner öffentlichen Trauer gerade im Austausch mit seinem Publikum Trost gespendet. Ein intensiver Performer war er von jeher, in den letzten Jahren entwickelte er auf der Bühne jedoch zunehmend charismatische Präsenz: Selbst in den stadionartigen Auftrittsorten, die er mit seiner Band The Bad Seeds mittlerweile ausverkauft, gelingt es Cave, eine intime Verbindung zum Publikum herzustellen.
Die eigentlich für das vergangene Frühjahr geplante Europatour sollte das bisher Dagewesene toppen, mit Gospelchor und allem Drum und Dran. Doch daraus wurde aus den bekannten Gründen erst mal nichts. Das Konzert, das er stattdessen im Juli aus einer prachtvollen, viktorianischen Konzerthalle auf einer grünen Anhöhe im Norden Londons auf die Bildschirme seiner Fans streamte, nannte er „Idiot Prayer: Nick Cave Alone at Alexandra Palace“.
Dabei liegt die Betonung vermutlich auf „alone“, schließlich könnte man auch solo sagen: Wenn Cave, so der Subtext, sein Publikum nicht in seine Auftritte einbeziehen kann, wie er das dieser Tage gerne tut, fühlt er sich eben allein. Zugleich ist der Zustand des Alleinseins ein natürlicher: Oft notwendig und im besten Falle produktiv. Und allein sind wir alle irgendwie, das hat die Pandemie verdeutlicht. Die Konsequenz, mit der Cave sich hier auf sich selbst zurückwerfen lässt, ist jedenfalls bemerkenswert. Und tut seinen Songs gut.
Immer neue Lichtstimmungen
In einem großen, immer wieder in neue Lichtstimmungen getauchten Raum, spielt sich Cave dabei durch sein Schaffen der letzten dreieinhalb Jahrzehnte: Das auf dem Album „Your Funeral, My Trial“ (1986) noch etwas unfokussiert schunkelig daherkommende „Sad Waters“ erhält nun eine nie dagewesene Eindringlichkeit; „Palaces of Montezuma“, ein Song aus dem Repertoire seines Nebenprojekts Grinderman, bliebt ein aus den Angeln gehobenes und doch treffsicheres Liebeslied. In der skelettierten und zugleich loungig swingenden Form kommen wilde Assoziationsketten wie „Well, the hanging gardens of Babylon, Miles Davis, the black unicorn, I give to you“ fast noch besser zur Geltung.
Und „Girl in Amber“, zu finden auf dem Album „Skeleton Tree“, transportiert ohne die elektronisch bearbeiteten, geisterhaften Stimmen fast noch mehr Isolation und Trauer. In gewisser Weise knüpft der Komponist mit diesen Neuinterpretationen an die Auftrittsreihe „Conversations With Nick Cave“ an, mit der er 2019 auf Tour ging. Dabei erklärte und dekonstruierte er seine Songs, indem er sie neu interpretierte.
Empfohlener externer Inhalt
Euthanasia
Der „Idiot Prayer“-Songreigen wirkt intim, aber diese Intimität ist nicht erdrückend. Eher haben die Stücke etwas Entrücktes, wie flackernde Traumwelten. Trotz der minimalistischen Darbietung nur mit Gesang und Klavier wirken sie keineswegs gleichförmig. Immer wieder ruft Cave ein neues Register auf: mal aufbrausend, mal traurig, dann wieder flehend. Mal klingt er ganz introspektiv, dann wieder expressiv.
Was baumelt am Skelettbaum?
Lediglich ein bisher unveröffentlichtes Stück – „Euthanasia“, entstanden während der Arbeit an „Skeleton Tree“ – ist auf dem Album zu finden. Ein Drittel der 22 Stücke, der titelgebenden „Idiot Prayer“ inklusive, stammt vom klavierlastigen Herzschmerz-Album „A Boatman’s Call“ (1997), auf dem Cave die Trennung von seiner damaligen Freundin PJ Harvey verdaute. Dennoch wirkt das Songmaterial frisch. Sogar der fiebrig-psychedelische Postpunk-Reißer „Mercy Seat“ (1988), seit Jahrzehnten fester Bestandteil des Live-Repertoires der Bad Seeds, entwickelt neue Tiefe.
Der Stream aus dem Juli, auf dem das jetzt erschienene Album basiert, hatte etwas Soghaftes, wozu sicher der Umstand beitrug, dass das Pausedrücken, Vor- und Zurückspulen und Nachgucken nicht möglich war. So wurde eine Form der Konzentration erzwungen, die sich auf digitalem Weg sonst schwer erzeugen lässt. Und doch lenkte die derart perfekt inszenierte Theatralik, die Cave und sein Team in den verlassenen Alexandra Palace zauberten, auch von der Essenz der Songs ab.
Und machte deutlich, was fehlt, wenn bei einem Konzert der Austausch, das gemeinschaftliche Erleben mit den Zuschauer:innen fehlt. Beide Präsentationsformen, Audio und Video, haben ihren jeweils eigenen Reiz. Auf Tonträger hört man noch intensiver hin, wie diese altbekannten Songs neue Resonanzräume entwickeln.
Sofern Kulturorte im kommenden Frühjahr wieder eröffnen, soll Nick Caves Konzert, in leicht erweiterter Form, am 14. Januar 2021 auch weltweit auf der großen Kinoleinwand zu sehen sein. Das wäre dann zwar noch kein Konzert, aber immerhin ein etwas gemeinschaftlicheres Erlebnis als allein am heimischen Computer.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ungerechtigkeit in Deutschland
Her mit dem schönen Leben!
Kompromiss oder Konfrontation?
Flexible Mehrheiten werden nötiger, das ist vielleicht gut
Der Check
Verschärft Migration den Mangel an Fachkräften?
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
FDP-Krise nach „Dday“-Papier
Ex-Justizminister Buschmann wird neuer FDP-Generalsekretär
Eine Chauffeurin erzählt
„Du überholst mich nicht“