Neues Album von Oliver Doerell: Der Mann als seltsames Orchester
Treibend und mit simplen Mitteln improvisiert: die Klangwelten des belgischen Künstlers Doerell alias Cummi Flu und sein neues Album „Y“.
Man wähnt sich auf einem staubigen Dorfplatz, weit weg in Indien oder in Tansania, wo sich das Geklapper aus den umliegenden Häusern mit Geräuschen eines Busbahnhofs mischt. Man muss warten, bis sich das Sammeltaxi füllt, ist benommen von der Hitze. Ungewohnte Klänge dringen aus dem Autoradio, dazu ist urbanes Rauschen zu hören, das sich zum Sound aus dem eigenen MP3-Player gesellt. Außerdem verwirren die Worte einer Sprache, die nicht zuzuordnen sind. Man muss also nur die Augen schließen, schon beamt einen „Y“, die zweite Veröffentlichung von Oliver Doerell alias Cummi Flu, in die Ferne.
Es sind jedoch keine Reiseimpressionen, die Doerell zu psychedelischer Exotik verdichtet. Seine Musik ist im Homerecording entstanden. Sie besteht aus vielen Klangschichten und hypnotischen, bisweilen treibenden Rhythmen mit erstaunlich massivem Popappeal. Wenn sich der 47-Jährige als Stubenhocker bezeichnet, nimmt man ihm das ab. Der gebürtige Belgier landete einst in Berlin, weil er seiner (längst aufgelösten) Band hinterherzog.
In seiner Wohnung in einer verwunschenen, aus der Zeit gefallenen Ecke der Schöneberger Roten Insel, auf der man sich immer noch im Westberlin der achtziger Jahren wähnt, hat er sich einen Rückzugsort geschaffen und werkelt an seinem eigenen musikalischen Universum. In der Küche lädt er zum Gespräch, im Wohnzimmer ist auf dem Schreibtisch ein Ministudio installiert mit vielen, für Laienaugen rätselhaften Gerätschaften.
Keksdose ohne Deckel
Ganz selbsterklärend dagegen ist das Instrument, welches das Rückgrat des Cummi-Flu-Sounds bildet: eine Keksdose ohne Deckel, um die Doerell Gummibänder gespannt und an der er ein Kontaktmikro angebracht hat. Der leicht hölzerne Klang jenes Perkussionsinstruments ist so zentral für seinen Sound, dass sogar der Projektname davon inspiriert ist: cummiist griechisch für Gummi.
Doerell selbst findet seinen Sound nicht sonderlich folky, beim Begriff Weltmusik verzieht er das Gesicht. Zwar hat er durch die intensive Zusammenarbeit mit der iranischdeutschen Choreografin Modjgan Hashemian Kenntnisse iranischer Musik erhalten, was durchaus Einfluss auf sein eigenes Schaffen genommen hat. Doch die Anmutung von Cummi Flu, so vermutet er, kommt eher daher, dass das zentrale Instrument improvisiert klingt. „Es hat einfach einen afrikanischen Flair, weil es sehr simpel wirkt.“
Seine Musik sieht er weniger als Ergebnis dessen, dass er Eindrücke von außen aufsaugt. „Ich verbringe sehr viel Zeit mit mir selbst. Wenn man zurückgezogen sein Ding macht, verselbstständigt sich das irgendwann.“
Gute Vernetzung
Dabei ist Doerell ziemlich gut vernetzt in der experimentellen Musikszene Berlins. Oft komponiert er etwa fürs Theater. Mit dem Klarinettisten Roger Döring macht er als Dictaphone Electronica mit Jazztouch. Vom Klavierspiel eines anderen Mitstreiters, Stephan Wöhrmann, lässt er sich immer wieder zu minimalistischen Kompositionen anregen, die sie unter dem Namen Swod veröffentlichen.
Der gemeinsame Nenner all dieser Projekte: Doerells Musik klingt stets filmisch. Und so gelingt es ihm auch trotz der experimentellen Nischenhaftigkeit, von seiner Kunst zu leben. Lizenzierungen und Tantiemen, die er von der Gema bezieht, sind wichtige Standbeine für ihn.
Oliver Doerell
Für den einstigen Posterboy des Berliner Indielabels Kitty-Yo, den Dänen Raz Ohara, der heute Musik zwischen Singer-Songwriter-Elegie und elektroakustischen Experimenten veröffentlicht (zuletzt etwa das wunderbar verhuschte Album „Moksha“ 2014), war Doerell übrigens einst der Begleitmusiker namens The Odd Orchestra. Ohara spielt wiederum auch bei Cummi Flu eine Rolle, obwohl Doerells neuste „Inkarnation“ als Soloprojekt konzipiert ist – „weil mir Mitmusiker manchmal wahnsinnig auf die Nerven gehen“, so Doerell.
Oharas Gesang, mantraartig Fantasiewörter wiederholend, trägt aber zum Sog des Albums bei. Die Wortkreationen fungierten bei ersten Entwürfen als Platzhalter für „richtige“ Lyrics. Doch schnell merkten die beiden, dass sie als echte Texte noch besser funktionierten. Dass „sie vom Ausdruck her qualitativ überlegen waren“, wie Ohara, der beim Interview nicht dabei ist, später in einer Mail erklären wird.
Magnet Brüssel
Gesanglich erinnert Oharas verhallte Stimme an Alan Vega. Der Gesang von Cummi Flu entspricht am deutlichsten Vegas New Yorker No-Wave-Band Suicide. Generell sieht Doerell Parallelen in der Motivation, Musik zu machen. Über kreativen Ursprünge redet der Belgier jedenfalls lieber als über die Frage, wo sie ihn hingeführt hat. Ausgiebig erzählt er von seinen Jahren als Teenager in Brüssel: „In den Achtzigern war das ein bisschen wie Berlin in den Neunzigern.“
Rau, düster, billig – ein Magnet für den internationalen Underground und visionäre Labels. Tuxedomoon, die Avantgarde-New-Wave-Band aus San Francisco ließ sich in der belgischen Hauptstadt nieder, ebenso die israelische Band Minimal Compact. Die lokale Musikszene sei ungeheuer inspirierend gewesen. Damals wollte Doerell jedoch unbedingt ins geteilte Berlin, doch für die Mauerstadt kam er 1991 definitiv zu spät an. Dafür, dass ihn seine damalige Band trotzdem nach Berlin gelockt hat, ist er noch heute dankbar. Die Technoexplosion sei allerdings an ihm vorbeigegangen. „Die hat mich eher genervt, obwohl viele meine Freunde in der Szene aktiv waren. Bands und Konzerte bedeuteten mir schon immer mehr.“
Cummi Flu & Raz Ohara: „Y“ (Albumlabel/Morr Music/Indigo)
Heute, so erklärt er mehrmals im Laufe des Interviews, interessiere ihn Stadtleben weniger. Es wirkt, als schwinge in seinem demonstrativen Einsiedlertum etwas Koketterie mit. Doch wenn er behauptet, er habe keine Angst, dass ihm die Inspiration ausgehen werde, glaubt man ihm sofort. „Solche Sorgen hatte ich als jüngerer Mensch. Ich kann jeden Tag zehn Stücke komponieren und bin hoch motiviert.“
Das Cummi-Flu-Debütalbum hieß übrigens „Z“. Doerell will sich bis zum Anfang des Alphabets durcharbeiten. Wer mit Musik solch weite Räume aufmachen kann wie mit dem jetzt folgenden Werk „Y“, braucht dafür wirklich keine Fernreisen und Ausflüge ins Nachtleben mehr.
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