Neues Album von Bon Iver: So extrovertiert war er selten

Bon Iver ist als Band zusammengewachsen und Songwriter Justin Vernon traut sich mehr. Das Album „i,i“ wartet mit bombastischem Prog Folk auf.

Ein Mann sitzt in einem großen Metallrohr und schaut etwas traurig

Neben Introvertiertem gibt’s auch politische Themen bei Bon Iver Foto: Graham Tolbert/Crystal Quinn

Manche müssen sich so oft zerbrechen, bis sie ganz sind. Justin Vernon scheint so ein Künstler zu sein. Schon im Titel seines jüngsten Albums dividiert sich der US-Singer-Songwriter auseinander, steht neben und doch näher bei sich als jemals in seiner Karriere zuvor: „i,i“ heißt das Werk, ohne Leerzeichen.

Viele haben sich bislang die Klarstellung gespart, dass dieses vergangene Woche sehr unvermittelt digital erschienene neue Album nicht allein von Vernon stammt, sondern von der Band Bon Iver. War der „gute Winter“ – hier in US-amerikanischer Unkenntnis des Französischen ausgesprochen – doch zunächst kaum mehr als ein Pseudonym des Sängers.

Auch wenn Bon Iver inzwischen mehr sind als nur die gestalterischen Ideen Vernons, mindestens ein Projekt, eine Band sogar, so stehen seine künstlerische Präsenz, sein so oft zum Falsett frisierter Bariton bislang beherrschend über allem musikalischen Material. Spätestens diesmal aber habe sich das geändert, erklärte Vernon. Deutlicher als je zuvor seien dies die Aufnahmen einer Band, sagt er. Eine Entwicklung, die das Thema des Albums bestimmt: ich und die anderen.

„Living in a lonesome way / Had me looking otherways“, croont der einstmalige Eremit gleich nach dem kryptischen Intro. Diese anderen Wege, die „i,i“ einschlägt, sind jedoch keine neuen. Sie führen nicht weiter ins Unbekannte, sondern kreuz und quer durch die schillernd-bunte Folktronic-Datasphäre, die Bon Iver bereits mit den ersten drei Alben angelegt haben. Vorbei an Festplatten voll R&B-Beats, durch das lyrische Dickicht eines tickernden Unterbewusstseins, zu bekifften Akustikgitarrenabenden, ausgepolstert mit orchestrierten Arrangements, gekühlt von klaren Klavierlinien. Einmal reißt sogar ein Saxofonsolo den Sound an sich.

Schlafwandlerisch intoniert

Eine musikalische Materialschlacht voll Prunk und Bombast. Ist das Prog Folk im 21. Jahrhundert? Und durch alles segelt seine Stimme. Vernon frakturiert sie mit weniger postmodernem Gusto (wer bin ich, und wenn ja, wie viele?) als noch auf dem Vorgängeralbum „22, A Million“. Doch er steuert sie weiterhin souverän wie einen Lenkdrachen bei gutem Wind.

Die erste Singleauskopplung, „Hey, Ma“, schwelgt vergleichsweise zurückgenommen. Weniger Drama, mehr auf Streicher gebetteter Dream Pop. So wattiert wie die frühkindlichen Erinnerungen zwischen Badestunde und Mama-Rufen, um die es hier geht. Doch im Gegensatz zu so gewohnt introvertierten Themen singt Vernon im Folgenden überraschend von konkreten Dingen, die sich auch außerhalb seines Gehirns abspielen: Obdachlosigkeit, Klimawandel und Trump. So extrovertiert hat man diesen lyrisch oft so verschlossenen Mann selten gehört.

Dabei cruisen Bon Iver so lässig im eigenen Sound, dass man das Gerede von der zusammengewachsenen Band gerne glaubt. Vernons Hörerinnen und Hörer der frühen Stunden haben die kreative Verschnaufpause womöglich nötig. Seit er, noch als Teenager im heimischen Wisconsin, in den späten 90ern in der Vollholzmelancholie herzensschwerer Barden wie Bonnie „Prince“ Billy oder Sam Beam von Iron & Wine vorfühlte, hat er mit atemberaubender Geschwindigkeit Genre-­Idiome zerstört.

Wo der Stromanschluss Dylan noch „Judas“-Rufe einbrachte, weitete Vernons Wildern in Elektronik und R&B seine frühere Folk-Hörerschaft rasant aus. Der melancholische Grundton hielt sensible Folkies bei der Stange, der impressionistische Umgang mit elektronischen Sounds und die mysteriösen Texte machten reichlich Ohren neugierig. Bis Kanye West und Eminem im Fanblock standen und zwei Grammys im Regal.

Bon Iver: „i, i“ (Jagjaguwar/Cargo).

Inzwischen ist das musikalische Feld so offen, dass Bon Iver andere Erweiterungen suchen. Mit wissenschaftlichem Eifer passen Nerds die Lightshow der vielschichtigen Musik an. Auftritte sollen bloß keine aneinandergereihten Songs bieten, sondern zu einer ästhetischen Umgebung verwachsen, einem sensuellen 360-Grad-Spektakel wie es seelenverwandte Bands wie die Flaming Lips seit Langem anstreben. Allein wird Vernon das nicht schaffen. Mit einer Band an der Seite, die seine Ideen so schlafwandlerisch intoniert, durchaus.

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