Neuer Spielfilm "Atmen": Mensch oder Arschloch sein
Eine der großen Überraschungen des Jahres kommt aus Österreich. Der Künstler Karl Markovic erzählt in seinem Spielfilm "Atmen" die Geschichte einer Bewährung.
In modernen Gesellschaften fallen viele Dinge an, die irgendjemand machen muss. Irgendjemand muss einer alten Frau, die tot in ihrer Wohnung gefunden wurde, ein graues Kostüm anziehen. Irgendjemand muss einem Freigänger, wenn er abends in das Gefängnis zurückkommt und sich zur Leibesvisitation nackt auszieht, mit der Taschenlampe in den Mund leuchten und danach ins Rektum sehen. Irgendjemand muss die Matratzen bei Ikea kaufen, und irgendjemand muss Recht sprechen.
Wenn einer einen schweren Fehler gemacht hat, wie der 19-jährige Roman Kogler (Thomas Schubert) in dem Film "Atmen" von Karl Markovics, dann hängt bei der Verhandlung über die Aussetzung der Jugendstrafe auf Bewährung alles von irgendeinem Richter ab.
Davor aber kommt es schon auf eine ganze Reihe anderer Leute an, die sich an einem bestimmtem Punkt, an dem sie auf Roman treffen, entweder wie ein Mensch verhalten oder wie ein (was in Österreich das Gegenteil ist) Arschloch oder einfach wie jemand, dem die Besonderheiten einer Situation egal sind. Dann gilt eben Vorschrift als Vorschrift, und die Spielräume des Ermessens, von denen ein jugendlicher Delinquent abhängt, werden klein.
"Atmen" ist die Geschichte einer Bewährung. Sie führt in einer doppelten Bewegung an den Punkt, an dem sich für Roman Kogler entscheidet, ob er eine neue Chance bekommt, und zugleich zurück an den Punkt, an dem sein Leben eine falsche Wendung nahm.
Genau genommen sind es zwei Punkte, wie es sich gehört für eine Erzählung, die sich nicht zu wohlfeilen Kausalmustern verleiten lassen möchte. Im Verlauf der eineinhalb Stunden des Films und der paar Wochen erzählter Zeit muss Roman immer wieder abends zurück in die Haft, morgens begibt er sich nach Wien, wo er bei dem städtischen Bestattungsbetrieb auf Probe arbeitet.
Markovics inszeniert dabei strikt prozedural, ihn interessieren die Abläufe, fast immer sind die Einstellungen im Sinne einer unmittelbaren Plausibilität gelöst, zwischendurch gibt es gelegentlich leicht abstrahierende Distanzbilder. Das ändert aber nichts daran, dass Empathie das entscheidende Prinzip von "Atmen" ist.
Fast erlösend
Karl Markovics, als Schauspieler ein Star in Film ("Die Fälscher") und Fernsehen ("Kommissar Rex"), hat für seine erste Regiearbeit auf eine verblüffende Weise die Register gewechselt, er hat dabei aber vermieden, sich epigonal hinter dem hier ganz offensichtlichen wirkmächtigen Michael Haneke einzureihen.
Im Gegenteil äußert sich in "Atmen" ein Moment, das für das österreichische Kino insgesamt fast erlösend wirken könnte: Dessen Hang zu deterministischen Universen wird hier in jeder einzelnen Szene in die Offenheit klassischer Identifikationsdramaturgie aufgelöst, ohne dass das analytische Interesse deswegen leer ausgeht.
Die lange Szene einer "Hausabholung" nach einem Todesfall ist geradezu ein Meisterstück der Erschließung von Facetten einer Situation, und so hält Markovics es mit einer stellenweise großartigen und nur selten ins Konventionelle zurückfallenden Gestaltungssicherheit bis zum Ende.
"Atmen" ist eine der großen Überraschungen dieses Jahres. Ein einfacher, in den Details aber reicher und komplexer Film, der in Deutschland mit Untertiteln laufen wird, weil auch das Wienerische wesentlich zu der Grundspannung beiträgt. Es erlaubt nämlich zahlreiche Nuancen, mit denen irgendjemand sich wider den ersten Anschein als Mensch erweisen kann.
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