Neuer Roman von Stewart O’Nan: Gegen den Wasserfall schwimmen

Eine Reise ans Ende des amerikanischen Traums: In Stewart O’Nans Roman „Die Chance“ stemmt sich ein Paar gegen das Scheitern seiner Ehe.

Himmelfahrtskommando am kitschigsten Ort: In „Die Chance“ sind die Niagarafälle das Ziel. Bild: AP

Es gibt zuweilen eine Nachbarschaft von Ereignissen, die auf den ersten Blick wenig miteinander zu tun haben. So sind die Niagara Falls nicht nur ein beliebtes Ausflugsziel für Flitterwöchner, sondern auch für Selbstmörder. Die Wahrscheinlichkeit zu überleben, wenn man ohne Fass die Niagarafälle hinabgespült wird, liegt bei 1 zu 1.500.000. Eine sichere Methode also.

Die Zahl stammt aus Stewart O’Nans neuem Roman „Die Chance“, und Wahrscheinlichkeitsrechnungen spielen darin keine geringe Rolle. Die Wahrscheinlichkeit zum Beispiel, dass ein Paar seinen 25. Hochzeitstag erlebt, liegt bei 1 zu 6. Dass beim Roulette die Kugel auf eine schwarze Zahl fällt, ist schon wahrscheinlicher: 1 zu 2,06.

Art und Marion Fowler sind verheiratet, und diese Ehe schleppt sich dem Ende entgegen. Beide haben Affären hinter sich, die längere Zeit zurückliegen, aber nicht zu übersehende Risse im partnerschaftlichen Gefüge hinterlassen haben. Finanziell sieht es nicht besser aus: Die Hypothek auf ein zu teures Haus ist nicht mehr zu bedienen, Art hat seinen Job verloren, Amerika ist in der Krise. Und man ahnt auf den ersten Seiten: Die Wahrscheinlichkeit auf ein Happy End steht mindestens bei 1 zu 1.000.

„Getrieben von hohen Schulden, von Unschlüssigkeit und, törichterweise, mehr oder weniger insgeheim, von der unterschwelligen Erinnerung an ihre Untreue, flohen Art und Marion Fowler am letzten Wochenende ihrer Ehe aus dem Land. In den Norden, nach Kanada.“ Der Ausflug an die Niagarafälle, und das ausgerechnet am Valentinstag, ist ein Verzweiflungsakt. Noch einmal soll das Gemeinsame beschworen und alles auf eine Karte gesetzt werden. Russisches Roulette, mehr oder weniger. Und das ausgerechnet am kitschigsten Ort, den man sich für solch ein Himmelfahrtskommando vorstellen kann. Wasserfall-Metapher all included.

Stewart O'Nan: „Die Chance“. Aus dem Englischen von Thomas Gunkel. Rowohlt Verlag, Reinbek 2014, 222 Seiten, 19,95 Euro

Prägnant und schmerzhaft

Stewart O’Nan lässt die Reise ans Ende des amerikanischen Traums mit einer Beinahe-Katastrophe beginnen: Der Bus, mit dem die beiden ihrem Endspiel entgegenfahren, muss eine Vollbremsung hinlegen, Taschen schleudern umher, und Art, der sich eher als Pragmatiker denn als depressiven Charakter sieht, betrachtet den „Unfall als verpasste Gelegenheit“. Sein Tod in einem Crash hätte zumindest einiges klären können: Marion würde in den Genuss der Lebensversicherung gekommen sein, Schmach und Schande des Bankrotts wären abgewendet worden.

Aber das Aufflackern dieses Gedankens ist nur ein kokettes Spiel: Art wird von dem wunderbaren Figurenformer Stewart O’Nan eben nicht nur als mit Zahlen jonglierender Realist modelliert, sondern auch als unverbesserlicher Träumer. Er fasst an diesem Wochenende den sehr vagen, sehr sympathischen Plan, zum einen seine Frau wiederzuerobern und sich zum anderen im Casino auf einen Schlag dem Strudel der Pleite zu entziehen. Was nun drei Tage lang folgt, ist ein fast anrührendes Aufbäumen gegen das Scheitern, eine Abwehrschlacht inmitten von frischverliebten, frischverheirateten, frischverirrten Paaren.

Stewart O’Nan hat ein feines Sensorium für Zwischentöne und Gesten seiner Figuren, in und hinter denen sich Lebensabgründe auftun. Ganz knapp, prägnant und schmerzhaft, ohne sentimental zu werden oder geschwätzig, schildert er dieses Wochenende und spiegelt darin die Biografien seiner beiden Helden. Zwei tragische Helden sind Art und Marion nämlich wirklich: Sie bemühen sich trotz aller Widrigkeiten und wider besseren Wissens darum, noch einmal eine Wendung hinzubekommen, gegen den Strom zu schwimmen, auch wenn er sie gleich in die Tiefe reißen wird.

„A Love Story“

Das Schöne daran ist, dass die beiden sich auf eine naive Weise lieben, obwohl sie längst aller Illusionen beraubt sind und eigentlich kurz vor einer Trennung stehen. Sie nehmen auf zärtliche Weise Rücksicht aufeinander. Marion, die sich längst innerlich von Art verabschiedet hat und zuweilen mit Gleichmut über dessen ostentativ zur Schau gestellten Optimismus hinwegsieht, kann sich seinen jungenhaften Bemühungen nicht ganz entziehen. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie die Niagarafälle doch überleben könnten, wird so seltsamerweise von Seite zu Seite ein wenig größer.

Der Roman, von Thomas Gunkel gelungen ins Deutsche gebracht, hat im Original den Untertitel „A Love Story“. Was sich angesichts der Ausgangskonstellation wie bittere Ironie anhört, trifft es letztlich ganz gut. Welche Überraschungen das „Wheel of Fortune“, von dem Dinah Washington singt, allerdings nach diesem Wochenende bereithalten wird, das überlässt Stewart O’Nan der Fantasie – und damit dem guten Willen oder den bösen Vorahnungen – des Lesers.

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