Neuer Roman von Ottessa Moshfegh: Ein aufgewühlter Neuanfang

Was ist wahr, was nur ausgedacht? Der Ich-Erzählerin in Ottessa Moshfeghs Roman „Der Tod in ihren Händen“ ist nicht zu trauen.

Ottessa Moshfegh steht an einem geöffneten Fenster

Die US-Autorin Ottessa Moshfegh hat einen Sinn für schräge Ich-Erzählerinnen Foto: Jake Belcher

Nein, es ist tatsächlich kein Druckfehler, bestätigt eine E-Mail des Verlags. Zu Beginn des Romans „Der Tod in ihren Händen“ von Ottessa Moshfegh erwähnt die Ich-Erzählerin mehrmals ihren Namen: Vesta Guhl – wie das Shampoo, heißt es einmal. Und plötzlich ist nur noch von Ghul die Rede. Beiläufig ist das h nach vorne gewandert, interessanterweise nachdem Ghod, das Böse, erwähnt wurde. Ghod wie der Gholem, wie God, nur mit h.

Eigentlich wäre die Mail gar nicht nötig gewesen. Denn Vesta Guhl denkt so viel über Namen nach, dass ein Flüchtigkeitsfehler kaum vorstellbar ist. Schon der erste Satz präsentiert einen Namen: „Her name was Magda“ – „Sie hieß Magda“, steht auf einem von Steinen beschwerten Zettel, den Vesta beim Spaziergang mit ihrem Hund Charlie im Wald entdeckt. Er stößt alles Weitere an – denn Magda, auch das erwähnt der Zettel, ist tot: „Niemand wird je erfahren, wer sie ermordet hat. Ich war es nicht. Hier ist ihre Leiche.“

Was so nicht stimmt, denn zumindest in unmittelbarer Nähe der Nachricht liegt keine Magda. Vesta macht sich auf die Suche nach der Geschichte hinter der Nachricht. Aber ist einer Erzählerin, die einfach ihren Namen ändert, wirklich zu trauen?

Vom Zeitpunkt seiner Veröffentlichung her ist „Der Tod in ihren Händen“ der dritte Roman der 1981 in Boston geborenen Tochter kroatisch-persischer Eltern, die der New Yorker als „locker die interessanteste zeitgenössische amerikanische Autorin zum Thema ‚Leben, wenn Leben sich schrecklich anfühlt‘“ preist. Moshfeghs Debütroman „Eileen“ über eine junge Frau zwischen ihrem Job in der Jugendstrafanstalt und häuslicher Tristesse mit einem Alkoholikervater landete 2015 gleich auf der Shortlist zum Booker Prize.

Stoische Coolness

2018 erschien „Mein Jahr der Ruhe und Entspannung“, die Geschichte einer jungen, glamourösen New Yorker Erbin, die in einer Kunstgalerie jobbt und sich nach dem Tod ihrer Eltern – der Vater ist an Krebs gestorben, die Mutter hat sich kurz darauf das Leben genommen – mithilfe einer verrückten Therapeutin in einen nahezu selbstmörderischen Dauernebel aus Psychopharmaka, Beruhigungs- und Schlaftabletten versetzt.

Der Roman spielt um die Jahrtausendwende und listet, ganz im Geist der Popliteratur jener Zeit, mit stoischer Coolness Whoopi-Goldberg-Filme, Betäubungsmittel und traumatisierende Erinnerungen auf; von fern klingt Bret Easton Ellis’ Roman „American Psycho“ an, den Moshfegh in Interviews als wichtigen Einfluss nennt.

Tatsächlich entstand „Der Tod in ihren Händen“ vor den Romanen und der Short-Story-Sammlung „Heimweh nach einer anderen Welt“. Sie habe es in einer Krise – einsam und neu an der Westküste – für sich selbst geschrieben, erklärt die Autorin im Gespräch mit der New York Times. Es spielt Formen und Motive, die insbesondere in „Mein Jahr der Ruhe und Entspannung“ wieder auftauchen, skizzenhafter und dichter zugleich durch – mit einer völlig anderen Figur an einem entgegengesetzten Ort.

Eine dieser wiederkehrenden Formen ist die Erzählperspektive. Ottessa Moshfegh schreibt in der Ich-Form, mit den Stimmen ihrer Figuren, so verschieden sie auch sein mögen an Alter, Geschlecht, sozialen Umständen und körperlichen Voraussetzungen. Das radikale Hineinkriechen in eine Subjektivität und deren Bewusstseinsstrom gehört schon lange ins Repertoire moderner Erzähltechniken, wird jedoch von Mosh­fegh mit beachtlicher Konsequenz performt: Sie schneidet keine weiteren Stimmen dagegen, die eine andere Perspektive in die Geschichte tragen könnten; im Fall von Vesta Guhl/Ghul kommt es zudem nur zu spärlichen Begegnungen mit anderen Dramatis Personae, deren Reaktionen ein helleres Licht auf die Erzählerin werfen könnten.

Trostlose Gegend

Und als Leserin hat man schnell Grund zu misstrauen. Etwa vor einem Jahr ist Vesta nach dem Tod ihres Mannes Walter mit Trosthund Charlie in den Osten gezogen. Nichts hat die 72-Jährige im mittleren Westen gehalten, weder Kinder noch Freunde oder ein einstiger Beruf. Levant heißt der neue Ort, der so trostlos wirkt wie der Schädel des lokalen Einzelhändlers Henry, dessen Entstellung durch eine Schusswundennarbe Vesta auf anderthalb Seiten genüsslich schildert. Sie hat in der Nähe eine Pfadfinderinnenhütte am Waldsee gekauft. Ein Neuanfang in der Wildnis, eine Walden-Erfahrung nach langem, abgesicherten Hausfrauenleben. Wie muss man drauf sein, um sich das zu trauen?

Vesta hat nicht allzu gründlich nach der angekündigten Leiche gesucht, aber auch darauf verzichtet, die Polizei zu verständigen, der sie, warum auch immer, zutiefst misstraut. Obwohl einer von ihnen, den sie später Ghod nennt, ihr ausdrücklich rät, sich ein Telefon zuzulegen in einer Umgebung, in der es vor White-Trash-Crackküchen nur so wimmele. Stattdessen nimmt Vesta den Fall selbst in die Hand. Im Rechner der öffentlichen Bibliothek im nahen Bethsmane fragt sie die Suchmaschine nach Magda – und bestellt einen schwarzen Tarnanzug.

Ottessa Moshfegh: „Der Tod in ihren Händen“. Aus dem Englischen von Anke Caroline Burger. Hanser Berlin, Berlin 2021, 256 Seiten, 22 Euro

Was als Kriminalgeschichte beginnt, driftet so schnell in eine andere Richtung, als Vesta beginnt, sämtliche Beteiligte im vermeintlichen Mordfall zu imaginieren. Sie stellt sich Magda als junge Weißrussin von spröder Attraktivität vor, ihr selbst nicht unähnlich, die als Altenpflegerin jobbt und bei der Alleinerziehenden Shirley schwarz im Keller wohnt, wo sich Sohn Blake, der Verfasser des Zettels, in sie verguckt. In allen Einzelheiten malt sie sich Magdas Existenz aus, von der missbräuchlichen Herkunftsfamilie bis zu skurrilen Humorvorlieben. „Ich bin Dichterin“, erklärt sie Charlie. Nur der Täter fehlt.

Sind das erste Anzeichen von Alterswunderlichkeit, des Irrewerdens aus Einsamkeit? Was hatte es mit ihrer symbiotischen Beziehung zum deutschen Unidozenten Walter auf sich, dessen nicht sonderlich sympathisches Porträt sich nach und nach zusammensetzt? Anfangs vermisst sie den Toten schmerzlich, doch mit fortschreitender Erzählung werden ihre Erinnerungen wütender, ja gehässig.

Meisterlich komponiert

Gerade als man sich leicht enttäuscht auf die neue Spur einzulassen beginnt – okay, vielleicht doch kein mystery crime, sondern ein Ideenroman über die Geburt der Kunst, des Erzählens aus der Einsamkeit? –, scheint die erzählte Realität zu Vestas eigener Überraschung ihre fabulierten Theorien zu bestätigen. Doch vielleicht erliegt man auch bloß bereitwillig Vestas Gedankenwelt, die Ottessa Moshfegh in psychologisch meisterlich komponierter Einfühlung wiedergibt: ein aufgewühltes Bewusstsein im Übergang zu einer neuen Existenzstufe.

Was die junge New Yorkerin in „Mein Jahr der Ruhe und Entspannung“ bei maximaler Sedierung zu durchdämmern versucht, geht Vesta hellwach und tollkühn an: Gerade noch durchgerüttelt von Trauer und Verlust, befreit sie sich gegen Ende ihres Lebens aus langer, vielleicht selbst auferlegter Angst und Knechtschaft brachial zu Schöpferkraft und Zerstörungslust.

Ausgerechnet vor dem Bildschirm des öffentlichen Bibliothekscomputers, an dem gerade noch zwei Teenager nach Abtreibungsadressen gesucht haben, sinniert Vesta über ihr seltsames Tun: „Der Tod erschien mir fragil wie tausend Jahre altes, brüchiges Papier, eine falsche Bewegung, und alles würde mir zwischen den Fingern zerfallen. Der Tod war wie ein alter mürber Spitzenstoff. […] Eine Spinnwebe, die jeden Augenblick zerfallen konnte. Das Leben war anders. Das Leben war robust. […] Es war vorlaut und aufdringlich. Ein Klassenrüpel. Eine Barsängerin im hautengen Paillettenkleid. Ein Lastwagen, der unaufhaltsam die Straße hinunterdonnerte.“ Und: „… ich verlor den Faden. Worüber hatte ich gerade nachgedacht? Wie schafften es die Menschen, mit ihrem Leben weiterzumachen, als seien sie nicht auf allen Seiten vom Tod umgeben?“

Bis zum Schluss hält Moshfegh uns in der geschmeidigen Übersetzung von Anke Caroline Burger den Köder einer Doch-noch-Lösung des Falls vor die Nase, auch wenn längst andere aufregende Fragen mit ihm konkurrieren. Man kommt jedenfalls nicht umhin, dieses Buch mit geschärften Sinnen zu lesen. Nicht mal ein wanderndes h entgeht einem, wenn es den Übergang von der scheuen zur todesmutigen Vesta bedeutet. Und was mag noch von einer Autorin zu erwarten sein, die gleich zwei davon im Nach­namen trägt?

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