Neuer Roman von Katharina Hacker: Café in entrückter Welt

Der Roman „Die Gäste“ von Katharina Hacker ist ein literarischer Balanceakt. Die Handlung? Bewegt sich in einem undurchschaubaren Geflecht.

Straßenszene auf der Potsdamer Straße in Schöneberg

„Die Gäste“ spielt in Berlin, in einer Zeit, in der Pan­de­mien in den Alltag integriert sind Foto: Christian THiel

Man erkennt die Potsdamer Straße wieder, die Kurfürstenstraße und die Bülowstraße – es ist ein einschlägig bekanntes Berliner Viertel, in dem Katharina Hackers Roman spielt. Und dennoch scheint über der ganzen Gegend ein merkwürdiger Schleier zu liegen. Die Sprache dieses Buchs setzt sich über die Realität, wie wir sie wahrnehmen, zunächst unmerklich hinweg, doch bald wird klar: So viel Zeit ist seit unserer unmittelbaren Gegenwart hier nicht vergangen. Das Geschehen ist um wenige Jahre in die Zukunft versetzt, aber mit vielen Merkmalen, die jetzt schon vorhanden sind.

Das Unheimliche ist alltäglich geworden. In Traufhöhe surren die Drohnen, grüne Papageien sitzen in den Platanen mit ihren klein gebliebenen Blättern, und es sind etliche Wildschweine, Füchse und aasfressende Krähen unterwegs, die gar nicht mehr weiter auffallen. Die Autorin hat ihr Roman­ensemble nur ein bisschen nach vorn verschoben, in eine Zeit, in der Viren und Pandemien in das Leben wie selbstverständlich integriert sind.

Man ist an die Todeszahlen längst gewöhnt, wenn sie wieder einmal „nach oben schwellen“, aber es wäre viel zu kurz gegriffen, dieses Buch einfach nur als eine Reaktion auf die jetzt virulenten Corona-Erfahrungen zu lesen. Es bewegt sich in größeren Zusammenhängen, und dort ist auch das Rätselhafte verortet, das seine Wirkung ausmacht.

Dass hier etwas Bedrohliches mitschwingt, erschließt sich allerdings gar nicht so schnell, denn die Ich-Erzählerin Friederike ist durch eine recht unbeschwerte Haltung charakterisiert. Es ist wie eine leicht verzauberte Welt, in die wir am Anfang eintreten. Ein alter Rechtsanwalt, der ein Freund von Friederikes Groß­mutter war, hat eine verblüffende Nachricht: Die vor einiger Zeit gestorbene Großmutter hat ihr ein Café vererbt, und es gibt nur noch wenige davon.

Katharina Hacker: „Die Gäste“. Fischer, Frankfurt am Main 2022. 256 Seiten, 20 Euro

Damit eröffnet sich eine Szenerie, die wie traumwandlerisch zu Friederikes Tätigkeit am „Institut für schwindende Idiome“ in Dahlem passt. Professor Huber spricht lustvoll lauter alte Vokabeln aus, und ihr Kollege scherzt, dass Friederikes Männer immer verschwinden – ihr Sohn und ihr Mann haben sich abgesetzt. „Abwesenheiten“ werden zu einem eher launig intonierten Leitmotiv. Und romantisch federleicht wird die Geschichte der Kollegin erzählt, die immer mit einem recht sonderbaren Professor anbandeln wollte, der dann aber mit einer Trompeterin abhaut.

Elektrisierende Mischung

Das tauge­nichtshaft Verträumte dieser Geschehnisse ergibt zusammen mit dem unheimlichen Umfeld eine elektrisierende Mischung, ein fremdartig spannungsreiches Textgewebe.

Wo sind sie alle, die Leute „von Galerien und Abend­veranstaltungen und Konzert und Zeitungen, wie früher“?

Jeder Versuch einer Nacherzählung der Romanhandlung ist zum Scheitern verurteilt. In sorgsam durchnummerierten, aber meist äußerst kurzen Kapiteln entfaltet sich eine skurril anmutende, entrückte Welt, in der sich langsam das Café in der Pohlstraße als Mittelpunkt des Geschehens entpuppt. Zum Inventar gehören die entzückende, zupackende und patente polnische Putzfrau Kasia und der Handwerker Sti­slaw. Aber mit den Gästen ist es nicht so leicht. Wie nebenbei fallen mitunter Sätze wie der, dass die Menschen ja schon seit geraumer Zeit „abends nicht mehr gesellig trinken“, und Kasia fragt mit ihrem charakteristischen Akzent, der zwischen Fremde und Heimeligkeit hin und her schwingt, einmal nachdenklich danach, wo sie alle sind, die Leute „von Galerien und Abendveranstaltungen und Konzert und Zeitungen, wie früher“.

Überhaupt scheint es nur wenige Menschen zu geben, der Gang durch die Straßen wirkt fast wie in einem Dorf. Allmählich lernt man einige Bezugspersonen kennen wie Herrn Karimi, den Trödler in der Grunewaldstraße, Frau Plessow oder Herrn Lehmann, der eine Art Späti betreibt und einen Dackel hat, der auf den Namen „Frau Merkel“ hört – eine Pointe, die nicht sonderlich ausgestellt wird, aber doch ein bestimmtes Zeitgefühl vermittelt.

Traumhafte Eskapaden

Die Gäste, die ins Café kommen, sind umherstreunende Jugendliche, die es bei ihren Eltern nicht mehr aushalten, oder Einzelgänger und Sonderlinge. Und mitten zwischen anrührenden Szenen und traumhaften Eskapaden mit Friedrikes Geliebtem Robert, der plötzlich im Roman auftaucht und ab und zu wieder abtaucht, stehen auch gegenläufige Begegnungen wie etwa mit einem Herrn Benedikt, der jedes Mal mit sehr dünnen Damen auftritt, diese etwas unterschreiben lässt und dann auf einmal von mehreren dieser Opfer mit blutigen inneren Organen beworfen wird – ein abgründiges Geschehen, in dem unvermutet kriminelle Machenschaften dieses Herrn zum Vorschein kommen.

Die Handlung bewegt sich immer intensiver hinein in ein undurchschaubares Geflecht aus realistischen Partikeln und fantastischen Konstellationen, und irgendwann ist man gar nicht mehr überrascht, dass Tiere sprechen können und im Keller ein ganzer Rattenzirkus stattfindet – Friederike entdeckt dieses spukartige Treiben, als sie einmal die Bodenluke öffnet. Das Ganze wirkt wie ein Schauspiel, in dem die Ratten die menschliche Gesellschaft zu spiegeln scheinen und eine Wahrheit offenbaren, die im üblichen Tagesablauf gar nicht mehr bemerkt wird.

Friederikes Café bildet eine Traumwelt mit eigenen Gesetzen. Der geheimnisvolle Hof und die halb verfallene Remise entwickeln ein Eigenleben, das zwischen Romantik, magischem Realismus und einer Horrorgroteske changiert. Robert, der märchenhafte Geliebte der Ich-Erzählerin, spricht einmal von diesem Café als von einem „Faux Terrain“, einem „Zwischenreich zwischen den Zuschauern, uns Betrachtern und dem aufgemalten Panorama“.

Fragwürdige Normalität

Auch dies ist ein Vexierbild, und es verrät auf sehr schöne Weise die poetische Idee dieses Romans. Das leicht Verrückte, Verschobene der ganzen Konstellation, der Zusammenprall einer märchenhaften Erzählstimme, die sich über gar nichts wundert, mit einer nicht mehr zu ignorierenden Natur- und Gesellschaftszerstörung ist ein literarischer Balanceakt. Unsere Normalität erscheint aus dieser Perspektive plötzlich als irritierend und fragwürdig. Ohne es zu merken, sind wir bereits in einer ominösen Zukunft angelangt.

Aber da dieser Roman wie alle guten Romane mehrdeutig ist, nichts verrät und alle Schlüsse uns Lesenden überlässt, bleibt noch vieles offen.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.