Neuer Roman von Judith Hermann: Unerschrocken in der Kiste
Mit dem Roman „Daheim“ hat Judith Hermann die Geschichte eines Aufbruchs geschrieben – und sich als Schriftstellerin neu erfunden.
Der Roman beginnt mit einem Rückblick. Auf ein Leben vor 30 Jahren, das von einer geregelten Arbeit in einer Zigarettenfabrik, aber auch vom Gefühl der Freiheit geprägt ist, jederzeit neu anzufangen. Judith Hermann beschreibt in „Daheim“ eine namenlose Ich-Erzählerin, die sich mit Anfang zwanzig dem Rausch des Rauchens hingibt und sich aus den „Zusammenhängen“ herauszuhalten versucht, auch wenn sie erkennt, dass die Maloche am Band „uns alle zu erledigten Geschöpfen machte“.
Es ist die erste Überraschung dieses wendungsreichen Romans, dass ausgerechnet jene Autorin, die ihre Figuren oft jenseits aller ökonomischen Zwänge erzählte, nun ein feines Gespür für Klassenverhältnisse offenbart.
Daheim verbringt die junge Frau viel Zeit auf dem Balkon im fünften Stock, vor allem an heißen Sommertagen. Die Erzählerin schaut zur gegenüberliegenden Tankstelle, beobachtet anfahrende Autos und die Tankenden, die auf die digitalen Ziffern der Zapfsäule starren, aber zu träumen scheinen.
Mit all den unbekannten Leuten geht sie gedanklich auf Reisen, und damit ist einer folgenschweren Begegnung auch motivisch der Boden bereitet: An einem Abend trifft sie an der Kasse der Tankstelle einen seltsamen Mann im Anzug mit schlohweißen Haaren, der sich als Zauberer vorstellt und sie ohne Umschweife fragt, ob sie ihm nicht beim alten Trick mit der zersägten Frau assistieren wolle.
Ein unheimliche Episode
Tatsächlich legt sich die Unerschrockene auch bald in die dargebotene Holzkiste, und es fehlt nur noch, dass der Trick keiner ist und viel Blut spritzt. Was als mögliches Ende einer Short Story aufscheint, ist hier nur ein erzählerischer Auftakt: Die Autorin nutzt die unheimliche Episode, die das Leben der Frau prägen wird, sehr geschickt für die Gesamtkomposition des Romans, ohne dass es zunächst erkennbar wäre.
Statt mit dem etwas biederen Zauberpaar nach überlebter Kistennummer auf Kreuzfahrt-Tournee zu gehen, tritt die Erzählerin eine andere Reise an, um zusammenzufügen, was in der engen Kiste eben doch zerteilt worden war, „nicht körperlich, eher Kopf. Vielleicht im Herzen“.
Judith Hermann: „Daheim“. S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 2021, 190 S., 21 Euro
Sie verlässt die Zigarettenfabrik, lernt Otis kennen, heiratet ihn, bringt Tochter Ann auf die Welt, trennt sich wieder und sucht am Rande eines norddeutschen Küstendorfes die Einsamkeit und sich selbst. Es wird eine Weile dauern, bis aus der Fremde ein neues Zuhause wird, ganz ohne Projektionen, ein Ort, der Geborgenheit bietet, mitsamt der sozialen Konflikte, die für ein tragfähiges Verhältnis zur neuen Heimat nötig sind.
Wie Judith Hermann von einem ländlichen Daheim erzählt, ohne die Zumutungen des Ländlichen auszulassen, gehört zu den Stärken dieses virtuosen Romans. Die Protagonistin fürchtet sich in der Einsamkeit schon bald vor Geräuschen im Haus, die vielleicht von einem Marder stammen, und so muss sie sich den Einheimischen anvertrauen, die völlig anders gestrickt sind. Dabei geht es weniger um das Verhältnis von Urbanität und Provinz, sondern um die Frage, wie sich radikal individualisierte Menschen begegnen, wie sie Gemeinsamkeiten bei all den Differenzen finden.
Nichts wird verklärt
So geheimnisvoll sich manche Beziehungen in dem Buch gestalten, nichts und niemand wird verklärt. Die finanziellen Zwänge bleiben immer präsent. Die Liebe des fast sechzigjährigen Bruders Sascha zur zwanzigjährigen Nike, die nicht nur schlechte Zähne hat, sondern von ihren Eltern in irgendwelche Kisten eingesperrt wurde, entwickelt sich bald zum Drama.
Zwei weitere Figuren tragen zum Gelingen des Romans bei: Da ist zum einen Mimi, die nach drei gescheiterten Ehen wieder leben möchte, „wo sie herkam“. Die Bildhauerin badet nackt im brackigen Hafenwasser, spricht gerne von ihren „Wurzeln“ und ihrer „Wallung“. Über Mimi lernt die Erzählerin den Hoferben Arild kennen, der nicht nur zighundert Schweine im Stall stehen hat, sondern auch in der Lage ist, eine Marderfalle aufzustellen.
Behutsam nähern sich die grundverschiedenen Charaktere einander an, die Sehnsuchtsreisende und der zupackende Mann, der sein Dorf nie verlassen hat. Als Arild ihr ein Tiefkühlkost-Dinner mit Fertigschnitzel und verkochten Kartoffeln bereitet, wäre das ein passender Anlass, alle Ambitionen fahren zu lassen. Aber die Frau betritt das Schlafzimmer des Bauern, das sie für „eine Zentrale zur Durchsetzung eines komplizierten und persönlichen Systems“ hält.
Auf diesen Seiten, als die Motive ineinandergreifen, die Trickkiste durchs Liebesbett ersetzt wird und das Zersägen einem zumindest etwas zärtlicheren Zauber weicht, als draußen vor der Tür die Marderfalle wieder beim falschen Tier zuschlägt, beim Bewundern dieser sprachlich wie dramaturgisch gelungenen Prosa, dachte ich an die vorangegangenen Werke Judith Hermanns. Wie war das damals, 1996, als ihr Erzählband „Sommerhaus, später“ herauskam, der von Kritik und Publikum anfangs ignoriert wurde, um dann von Marcel Reich-Ranicki ausgiebig gelobt zu werden?
Kein Wunder, sondern Notwendigkeit
Die Eloge im Fernsehen löste jedenfalls einen Hermann-Hype aus. Das Debütbuch entwickelte sich auch zur literarischen Bezugsgröße, erschienen in der Folge doch zahlreiche Erzählbände von Autorinnen, die sich, ähnlich wie Judith Hermann, auf den lakonischen Stil Raymond Carvers bezogen. Es wurde sogar ein Feuilletonetikett für dieses Phänomen erfunden, das hier mal nicht erwähnt wird, weil es so sexistisch wie nichtssagend ist.
Denn es war keineswegs ein Wunder, sondern eine notwendige Entwicklung, als Ende der 1990er Jahre in Deutschland nicht nur ein paar wenige, sondern endlich viele junge Autorinnen kurze und etwas längere Prosa vorlegten und damit den hiesigen, von Männern dominierten Literaturmarkt veränderten.
Judith Hermann wollte keine Galionsfigur dieser literarischen Wende sein, wurde es trotzdem, und manche scharfe Kritik ihrer folgenden Werke lässt sich vermutlich durch ihre herausragende Stellung im Buchmarkt erklären. Doch boten ihre Bücher literarische Schwächen, die auch bei einer Wiederlektüre auffallen. Manchmal überlagerte der mediale Radau die seriöse Rezension.
Dabei schienen ihre Texte auch Fluchtgeschichten vor der übersteigerten Erwartungshaltung des Publikums zu sein: In ihrem 2003 veröffentlichten Erzählband „Nichts als Gespenster“ schickte Hermann ihre zumeist gelangweilten Figuren in die Ferne, um bloß nicht als Berliner Heimatautorin zu gelten. Dabei wurde auch der Sound ihrer dauermelancholischen Prosa zum Problem, der zwar zum Markenzeichen taugte, aber literarisch kaum Abwechselung bot.
Maßvolle und wirkungsmächtige Bilder
Zur großen Enttäuschung wurde Hermanns erster Roman „Aller Liebe Anfang“, der eine zähe Stalking- und Ehegeschichte aus bekannten Versatzstücken bot. In „Daheim“ hingegen verliert sich die Autorin nicht im Kleinklein der Beschreibung, sondern weiß auch längere Erzählbögen kunstvoll zu spannen. Die zentralen Bilder und Metaphern werden maßvoll und damit wirkungsmächtig gesetzt.
Statt weiterhin ein schwermütiges Raunen zu kultivieren, setzt ihre Prosa jetzt auf unterschiedliche Tonfälle. Neben düsteren Passagen gibt es heitere, gar lustige Szenen. Über Arild heißt es an einer Stelle: „Er hatte eine Taschenlampe dabei und einen Vorschlaghammer. Ich fand ihn unwiderstehlich.“
Die Geschichte ist sowohl realistisch als auch allegorisch zu lesen: Wir alle leben in irgendwelchen Kisten, hocken vor oder in Fallen des Lebens, das durch merkwürdige Erfahrungen zersägt zu werden droht. Die Literatur selbst ist eine große Zauberkiste, die Erinnerungen erst auseinandernimmt, um dann etwas Neues entstehen zu lassen.
Das Buch ist ein Familienroman, der mit vielen Vorstellungen von Familie aufräumt; es handelt sich aber auch um die Suche nach einer neuen Heimat, die eine Figur an den Rand des Landes und an die Grenze ihrer unsicheren Identität führt. Hermann bleibt ihren Themen durchaus treu, schreibt sie doch erneut über das verstörende Wechselspiel von Nähe und Distanz.
Groteske Essensszenen
Dieses Mal entstehen allerdings äußerst eindringliche Momente, etwa in gruselig-grotesken Essensszenen und sparsam ausgeführten Liebesvolten. Alles fügt sich und steuert auf ein wiederum überraschendes Finale zu, in dem mit falschen Sorgen und bitteren Schockmomenten jongliert wird, womit das Zaubermotiv auch erzählerisch eingelöst wird.
Die geheimnisvollste Figur in diesem vielschichtigen Roman bleibt Otis, der seiner großen Liebe auch nach der Trennung ausführlich schreibt. Schon in Ehezeiten lebten die beiden in zwei verschiedenen Wohnungen, auch weil seine Behausung eine Art „Lager, ein eigenartiges und versponnenes Archiv“ ist. Otis sammelt alles und kann nichts loslassen. Er hat ein phänomenales Gedächtnis und korrigiert auch schon mal die Erinnerungen seiner Exfrau.
Otis lebt in der Erwartung, die Welt werde untergehen. Die Angst vor dem Tod ist in „Daheim“ ständig präsent, und als Otis schließlich doch sein Lager der schmerzhaften Absicherung auflöst, als die weltreisende Tochter sich nicht nur mit Geodaten zu ihrem Aufenthaltsort, sondern auch mal telefonisch meldet, kann die melancholische Mutter endlich die „Sehnsucht nach allem, was ich einmal hatte“, hinter sich lassen und noch mal neu anfangen. Was für ein schöner, in sich verschlungener Roman.
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