Neuer Roman von Édouard Louis: „Ich hasse das Schreiben“
Für den französischen Newcomer setzt Literatur da an, wo Politik versagt. In „Im Herzen der Gewalt“ ergründet er, woher das Böse kommt.
Ich liebe das Schreiben nicht, ich hasse es“, sagt Édouard Louis, 24 Jahre alt. Wenn er um 11 Uhr vormittags aufwacht und schreiben will, sträubt sich vieles in ihm dagegen. Und doch spürt er die Notwendigkeit. Denn er hofft, dass die Literatur als Mittel taugt, um den Gründen der Gewalt auf die Schliche zu kommen.
Davon spricht der junge Starautor aus Frankreich im Videochat mit der taz. Denn er sieht es so: Die Politik, die eigentlich dafür verantwortlich wäre, diese Gründe ausfindig zu machen, schere sich nur um die Auswüchse der Gewalt, Aggressoren in Schach zu halten. „Dabei sind aggressive Akte doch Effekte – von Gründen der Gewalt, die sehr viel tiefer liegen“, sagt Louis.
„Im Herzen der Gewalt“ heißt sein zweiter Roman, der am 24. August auf Deutsch erscheint. Alles dreht sich darin um eine Nacht: Édouard schlendert um vier Uhr früh am 25. Dezember 2012 nach einem liebevollen Weihnachtsfest mit seinen besten Freunden Geoffroy und Didier über die Place de la République im Zentrum von Paris.
Ein anderer Mann, Anfang dreißig, folgt ihm und flirtet ihn charmant an. Édouard will eigentlich allein sein, doch der Atem, der Schweiß, das Charisma des Mannes verlocken ihn solchermaßen, dass er den quasi Unbekannten doch mit auf sein Zimmer nimmt. Reda heißt er. Er legt Wert darauf Kabyle, kein Araber, zu sein. Vier- oder fünfmal machen sie Liebe, Reda und Édouard, und dämmern immer wieder in den Schlaf.
Was als Liebelei beginnt, gipfelt in einer Vergewaltigung
Dazwischen erzählt Reda die Geschichte seines Vaters: wie der Anfang der 1960er Jahre aus Algerien nach Frankreich kam, in ein enges Wohnheim mit einem Leiter, der tyrannisch und Rassist war. Und auch in die tintenblaue Liebesnacht der beiden jungen Männer dringt Gewalt ein: Reda wird Édouard strangulieren, vergewaltigen und ihm einen Revolver an den Hinterkopf halten.
Und eigentlich weiß man das als Leser*in von „Im Herzen der Gewalt“ sehr früh, denn schon im ersten Satz des Romans ist vom Mordversuch die Rede. Die Erzählsituation des autobiografischen Erzählers ist raffiniert verschachtelt: Zum einen berichtet die Hauptfigur Édouard, wie er sich widerwillig von seinen Freunden dazu überreden lässt, Anzeige zu erstatten gegen Reda.
Édouard resümiert nun aber nicht nur die kriminalmedizinische Untersuchung und die Anzeigenaufnahme, die ihn beide dazu nötigen, die Traumanacht wieder heraufzubeschwören; nein, der Erzähler lässt über einen Großteil des Romans hinweg seine Schwester Clara zu Wort kommen, die ihrerseits Édouards Schreckenserlebnisse ihrem Mann erzählt.
Édouard hört durch den Türspalt zu und merkt, wie ihn Clara stellenweise besser versteht, als er es sich beschämt eingestehen mag – und wie sie andererseits auch sehr danebenliegt in ihrer Sicht aus zweiter Hand. Immer wieder schiebt Édouard in Klammern gesetzt seine eigenen Kommentare dazwischen.
Alles wahr – dennoch sei das Buch ein Roman
Das ist erzähltechnisch so sehr abseits der Konvention gebaut, dass sich leicht verstehen lässt, warum der Autor Édouard Louis seine beiden Bücher Romane nennt, obwohl er beteuert, nichts darin sei fiktiv. Fiktionen interessieren ihn als Schreiber nämlich nicht – auch wenn er liebend gerne Fiction liest, William Faulkner zum Beispiel oder Toni Morrison.
„Doch wenn ich selbst schreibe“, sagt er, „habe ich das Gefühl, es gibt so viele Geschichten in der Wirklichkeit, dass es Zeitverschwendung wäre, würde ich mir etwas ausdenken.“ Romane bedeuten für ihn: literarische Konstruktionen. Das war schon bei seinem hunderttausendfach verkauften 2014er Debüt, „Das Ende von Eddy“, so, das von seiner gewaltgebeutelten Kindheit im picardischen Dorf Hallencourt erzählt, bis hin zur Flucht in die Großstadt und dem Coming-out als schwuler junger Mann, der schließlich in Paris Philosophie studiert.
Die Engstirnigkeit der homophoben und gewaltbereiten Dorfbewohner fand im Romanerstling eine präzise Entsprechung in den Sprachnuancen der Dialoge, die bis ins Menschenverachtende schürften. Schon damals übersetzte das, wie jetzt, unübertrefflich Hinrich Schmidt-Henkel.
Und weil Édouard Louis mit seinen 24 Jahren ein unerhört kluger Autor ist, der weit über individuelle Empfindlichkeiten ins Gesellschaftliche hinausdenkt, ist diese Schachtelung der Perspektiven bei „Im Herzen der Gewalt“ keine exercise de style, sondern Horizonterweiterung. Denn Édouard und Clara versuchen, das Fremde mithilfe des Selbsterlebten zu verstehen.
Didier Eribon spielt eine wichtige Rolle
(Psycho-)Gewalt haben auch sie auf dem französischen Dorf erlebt und selbst weitergetragen. Aufgezogen an der autobiografischen Traumanacht fragt Louis also, welche gesellschaftlichen Begebenheiten zu dieser Nacht führten – und diese in ein neues Licht rücken, für das der mitunter selbst rassistische Strafverfolgungsapparat blind ist: Armut, Ausgrenzung, Fremddefinition, Rassismus, Kolonialismus.
Das Buch ist aber nicht nur eine Geschichte der Gewalt, sondern auch eine Geschichte über die Freundschaft, jenseits der biologischen Familie. (Zu den engsten Freunden des Autors, der gerade in Paris promoviert, zählen ja die französischen Sozialphilosophen Geoffroy de Lagasnerie und Didier Eribon, die beide im Roman eine wichtige Rolle spielen, obgleich sie nicht mit Nachnamen genannt werden.)
Eine Art zu leben, auf die sich zumal Queers verlassen müssen, bei denen die Verbindung zur leiblichen Familie gekappt ist. Louis’ Schicksalsverwandtschaft mit Didier Eribon wird allemal jedem klar, der dessen autobiografischen Essay „Rückkehr nach Reims“ las, der ebenfalls, aufgezogen an der eigenen Geschichte, Selbst- und Gesellschaftskritik betreibt.
„Die Unterscheidung zwischen dem, was intim, und dem, was politisch ist, ist konstruiert, historisch bedingt“, sagt Édouard Louis. „Aber die Literatur kann jene künstliche Grenze zwischen dem Intimen und dem Politischen einreißen.“ Doch „die meisten Autoren entstammen ja der Bourgeoisie, und die Reichen spüren die Folgen der Politik nicht so dringlich.“
Die Kluft zwischen Leben und Literatur
Schon nach Édouard Louis’ Debüt sagten Leute ihm, dass er so viel gewaltgeladene Erfahrungen beschreibe: Erniedrigung, Körperverletzung, Vergewaltigung, Waffengewalt. „Aber all diese Dinge sind doch keine Seltenheit“, kontert Louis dann, „sondern ganz alltäglich.“ Die Leute sollten nicht fragen, warum er so viel darüber schreibe, sondern, warum so wenig darüber geschrieben wird und wir so wenig davon sprechen.
„99 Prozent der Literatur gaukeln einem doch vor, das Leben der intellektuellen Mittelklasse in Europa wäre das normale Leben schlechthin. Das Leben aus den Bücherläden ist aber nur das einer Minderheit.“ Er möchte diese Kluft zwischen dem Leben und der Literatur schmälern, sagt Louis. Und, ja, er hatte Angst, dass rechtsextreme Politiker seine Geschichte missbrauchen.
Krieg spielen. Die US-Armee probt im fränkischen Truppeneinsatzlager den Ernstfall. Wie es ist, als Statist im inszenierten Kriegsgebiet zu leben, lesen Sie in der taz.am wochenende vom 19./20. August. Außerdem: Der Terror ist in Spanien angekommen: Wie die Menschen in Barcelona die Anschläge erlebt haben und was diese für die Unabhängigkeitsbewegung der Katalanen bedeuten. Und eine Abrechnung: Die Wirtschaftsnobelpreisträger treffen sich in Landau. Haben sie die Ehrung verdient? Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.
Doch wann immer im Buch von Gewalt in Paris die Rede ist, vergleicht Clara das mit der Gewalt, die Louis’ Familie in der französischen Provinz erlebte und weitertrug. Auf diese Weise entlarvt Clara, wohl sogar unbewusst, dass die von der Polizei nahegelegte rassistische Interpretation des Tathergangs eine falsche ist – die vom Algerier als perfidem Täter.
Da denkt Édouard Louis, der sich viel mit Pierre Bourdieu beschäftigt hat, wohl auch an dessen Prinzip der Konservierung von Gewalt: dass erfahrene Gewalt weitergegeben wird. „Doch das System, in dem wir leben“, sagt Louis, „verwendet keine Gedanken darauf, Gewalt nachhaltig zu überwinden.“
Gefängnis ist auch keine Lösung
Der richtige Reda war elf Monate im Gefängnis und ist nun wieder auf Bewährung frei. Louis erzählt davon, wie sein Anwalt und er sich dafür starkgemacht hätten: „Ich weiß, was Gefängnis bedeutet. Als Kind habe ich meinen Cousin dort besucht. Gefängnis ist ein barbarischer Prozess.“ Er glaube daran, dass es irgendwann eine gesellschaftliche Mehrheit gegen Gefängnisse geben wird – wie jetzt schon gegen die Todesstrafe.
„Aber die Opfer werden ja nicht gefragt. Man sagt: ‚Er tat, was er tat – also muss er dorthin.‘“ Der Staat beraube uns also unserer Erfahrungen und transformiere sie in weitere Gewalt. Louis erzählt seine selbst erlittene Geschichte nicht als Action-, sondern als Seelenkrimi von maximaler sozialer Relevanz. Wenn man das Milieu seiner Kindheit verlassen musste, sieht man die Macht der Gesellschaft wohl klarer vor Augen als andere.
Édouard Louis: „Im Herzen der Gewalt“. A. d. Franz. v. Hinrich Schmidt-Henkel. S. Fischer Verlag, Frankfurt 2017, 224 S., 20 Euro
Weitsicht dank Empathie wäre, das weiß Louis, die einzige Chance, den Kreislauf der Gewalt ja vielleicht doch noch zu durchbrechen. Als Teenager, sagt Louis, habe er davon geträumt, nach Paris zu fliehen, Bücher zu schreiben und ein Intellektueller zu werden. „Nunmehr träume ich davon, zurückzukehren ins Dorf und zu trinken mit meinen Freunden von der Bushaltestelle.“ Und fänden sie eine gemeinsame Sprache – das wäre doch gewaltig.
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