Neuer Roman von Dörte Hansen: Hinter dem Walknochenzaun

An der Nordsee spielt Dörte Hansens Roman „Zur See“. Er porträtiert eine Familie alten Inseladels und verabschiedet wehmütig die gute alte Zeit.

Schafe an der norddeutschen Küste. Eines mäht.

Mäh. Schafe auf dem Deich einer Nordseeinsel Foto: Daniel Rosenthal/laif

Wenn das Leben sich überall ändert, so ändert es sich auf einer Insel wohl etwas langsamer, aber doch eben auch. Eine namenloses Nordsee-Eiland ist der Schauplatz des neuen Romans von Dörte Hansen. Hier leben die fünf Mitglieder der Familie Sander. „Alter Inseladel“ sind die Sanders. Sie haben seit Generationen auf der Insel gelebt, und ihr altes Haus hinter einem traditionellen Zaun aus Walknochen ist das schönste weit und breit. Aber hinter der Kalenderblattidylle ist längst nicht alles in Ordnung.

Vor zwanzig Jahren hat Jens Sander, einst als Kapitän auf dem Meer unterwegs, die Familie verlassen, um sich als Vogelwart auf einer abgelegenen Düne zu verschanzen. Hanne, seine Frau, richtet immer noch die Betten in ihren altmodischen Fremdenzimmern her, in denen niemand mehr schläft, weil die heutigen Badegäste die Bequemlichkeit moderner Apartmenthotels vorziehen.

Die drei längst erwachsenen Kinder haben eigene Probleme; und am meisten leidet, so scheint es, der älteste Sohn, Ryckmer. Gelernter Kapitän ist auch er, kann aber, nachdem sein Schiff beinahe von einer Riesenwelle verschluckt worden wäre, nicht mehr zur See fahren und braucht schon zum Frühstück ein Bier.

Tochter Eske, tätowiert wie ein Seemann, arbeitet als Altenpflegerin, hält sich mit Heavy Metal lebendig und leidet darunter, eine Inselgeneration nach der anderen sterben zu sehen. Henrik, der Jüngste der Geschwister, verdient im Sommer als Bademeister Geld und baut ansonsten Skulpturen aus Strandgut. („Seltsame Geschöpfe“, findet seine Schwester, „Vogelscheuchen“, denkt seine Mutter.) Als Künstler ist er inzwischen ein „gemachter Mann“, wie es an einer Stelle heißt.

Aufs Festland gezogen

Abwechselnd erzählt der Roman aus dem Leben aller Familienmitglieder, dazwischen auch von den Nöten des Pastors, dessen Frau aufs Festland gezogen ist und den Gatten nur noch an Wochenenden besucht. Und auch mit seinem Gottesglauben hat Pastor Lehmann Schwierigkeiten …

Jede einzelne Romanperson trägt ihre Sorgen und Nöte allein mit sich herum. Warum gerade der scheinbar so selbstgenügsame Henrik der Einzige ist, dessen Perspektive der Roman niemals einnimmt, über dessen potenzielle Sorgen und Nöte wir also rein nichts erfahren, wird erst zum Schluss offenbar. Henrik muss für diesen Roman ein Rätsel bleiben.

Dörte Hansen: „Zur See“. Penguin, München 2022, 256 Seiten, 24 Euro

Dörte Hansen kann Charaktere. Obwohl ihr Romanpersonal, einerseits, ein bisschen wie aus einem Typenkatalog entnommen wirkt, wenn man seine Eigenschaften kurz skizziert, haben doch andererseits alle Personen so viel Eigenleben, dass hinter der Erzähloberfläche eine Tiefe erahnbar wird, die nur angedeutet wird.

Das Leben ist im Wandel

Aber „Zur See“ ist gar nicht in erster Linie ein Roman über die Menschen, von denen er erzählt, sondern über das Leben, das sie repräsentieren. Ein Roman über das Leben auf einer Insel, die nie wieder so sein wird wie früher: Keine Seemannsfrauen stehen mehr sehnsüchtig am Kai, auf die Rückkehr ihrer Männer wartend. Keine Walfänger wohnen mehr in den Walfängerhäusern, sondern wohlhabende Zweithausbesitzer aus der Stadt. Einstige Krabbenfischer ziehen sich gestreifte Fischerhemden an, um Ausflugsboote zu betreiben.

Die Romanfiguren sind gleichsam gefangen in einem Als-ob-Zwischenreich. Das Leben so zu leben wie früher üblich ist unmöglich geworden. Aber wie soll man denn dann auf dieser Insel leben? Das ist noch nicht klar umrissen. Das Leben ist im Wandel begriffen.

Aber kann dieser Wandel eigentlich nur schlecht sein? Bei allem Respekt für die Fähigkeit der Autorin, Charaktere und Atmosphäre zu gestalten, nervt doch nach einer Weile der implizite Lamentobass, der den gesamten Roman durchzieht. Mit seiner tief eingeschriebenen Wehmut und seinem Kulturpessimismus ist „Zur See“ ein entschieden einseitiger und daher leider nicht völlig unkitschiger Abgesang auf die (guten?!) alten Zeiten, in denen das Leben auf der Insel hart war, aber jeder Mensch seinen Platz hatte.

Die Plagen des 21. Jahrhunderts

Und heute? Wird das Inselleben dominiert von Wochenendbesuchern, Sommerhausbesitzerinnen und Surfern, die im Roman nur als Störelemente auftauchen. Dass heutiges Inselleben nur deshalb überhaupt noch möglich ist, weil es den Tourismus gibt, ist eine sicherlich bittere Wahrheit.

Aber was die Änderung der Lebensgrundlagen betrifft, ist keine Insel eine Insel. Auch anderswo haben Menschen mit überhöhten Mieten, Overtourism und den anderen Plagen des 21. Jahrhunderts zu kämpfen. Die Sanders haben es nur noch nicht bemerkt.

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