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Neue Wohnform für BehinderteIn der Isolations-WG

Die Stiftung Alsterdorf hat lange Menschen mit Behinderungen in Wohngruppen betreut. Jetzt sollen sie in eigenen Appartements leben. Doch mit schwersten Behinderungen vereinsamen sie dort.

Fehlt manch behindertem WG-Bewohner: Frische Luft und Gesellschaft. Bild: dpa

HAMBURG taz | Wenn Jonas Saalmann* nach Hause kommt, hört er die Autos, die ein paar Stockwerke tiefer vorbei fahren. Sonst ist es oft still hier. In seiner Wohnung im Hamburger Stadtteil Eppendorf ist die Küche sauber und modern, die Vorhänge haben bunte Tupfen und auf der Holzkommode stehen Blumen. Sie haben seinen Rollstuhl an den Tisch geschoben, der Orangensaft steht vor ihm in einer Schnabeltasse. Doch Saalmann kann ihn nicht trinken. Er kann seine Arme nicht bewegen.

Saalmann ist 33 Jahre alt und seit Sommer 2011 lebt er in dieser Wohngemeinschaft. Seine Mitbewohnerin ist eine Frau, sie kann nicht sprechen und ist schwerstbehindert – genau wie er. Dass sich die beiden eine Wohnung teilen, liegt an der Evangelischen Stiftung Alsterdorf und ihrem „Prozess der Regionalisierung und Dezentralisierung“: Seit zehn Jahren schließt die Stiftung ehemalige Anstalten für Menschen mit Behinderungen und verteilt sie auf Appartements in der ganzen Stadt.

„Ziel ist, dass die Menschen als gleichberechtigte Bürgerinnen und Bürger in ihren Stadtteilen leben können“, sagt Birgit Schulz aus dem Stiftungsvorstand. Saalmann ist nicht größer als ein Kind, Beine und Arme sind schmal, manchmal kichert er laut. Mit den Nachbarn, ob mit oder ohne Behinderung, kann er sich nicht unterhalten.

Alsterdorfs Umzug

"Ambulantisiert" werden Bewohner der ehemaligen Asterdorfer Anstalten seit über 20 Jahren. Die Anstaltsstrukturen sollen aufgelöst werden, zugunsten einer Inklusion in die Hamburger Stadtteile.

Auf dem alten Anstaltsgelände im Stadtteil Alsterdorf gibt es seit 2003 den "Alsterdorfer Markt" - mit Geschäften, einem Lebensmitteldiscounter und Gastronomie.

Die Stiftung riss in den vergangenen Jahren drei Gebäude ab, zuletzt 2009 eines mit 216 Wohnplätzen. In neuen Wohnungen leben Menschen mit Betreuungsbedarf - aber auch solche, die einfach nur Miete zahlen.

Angehörige werfen der Stiftung vor, mit den neuen Wohnungen auf Kosten der Bewohnerinnen und Bewohner Geld verdienen zu wollen. Birgit Schulz vom Vorstand bestreitet das: "Unser Ziel ist es nicht, Gewinne zu machen, das gilt auch für Mieten."

Als er noch in den Alsterdorfer Anstalten wohnte, stand er mit seinem Rollstuhl oft im großen Gemeinschaftsraum, dort wo alle zusammen aßen und wo der Fernseher lief. Wenn ihn seine Betreuerin jetzt an den Nachmittagen besucht, sitzt er oft in der Küche. „Meist ist die Windel völlig durchnässt (Hemd, Hose, alles)“, schreibt sie in einem Brief an die Stiftung: „Auf Nachfrage, wie lange er denn da saß, weiß niemand Bescheid.“ Sie mache sich große Sorgen, dass Saalmann „in dieser 2-Personenwohnung vereinsamt und nicht genug Aufmerksamkeit/Betreuung erhält“.

Die Pflegekräfte, die sich in Eppendorf um Saalmann kümmern, haben manchmal ein blaues Babyphone dabei. Während Saalmann eine neue Windel bekommt, steht der runde Lautsprecher auf dem Fensterbrett und raschelt. Leise Stimmen sind zu hören. Eine Frau, die in einer anderen Wohnung im Haus wohnt, hat epileptische Anfälle. „Damit ich das höre“, sagt die junge Pflegerin.

„Die Stiftung Alsterdorf hat wahllos ambulantisiert“, sagt ein Mitarbeiter, dessen Name nicht in der Zeitung stehen soll. Er betreue etwa Menschen ambulant, die blind sind und gehbehindert – und trotzdem in Appartements wohnen. „Vorher haben sie noch ein bisschen am sozialen Leben teilgenommen, sind zum Frühstück und zum Mittagessen gefahren worden“, sagt er: „Jetzt isst jeder in seinem Appartement.“

Gemeinschaftsräume gebe es zwar auch in einigen Häusern in den Stadtteilen, doch die nutzten seine Kollegen oft nur als Pausenräume. Denn Mitarbeiterbüros seien in vielen der Wohnungen nicht mehr vorgesehen. Und für Gemeinschaftsaktivitäten bleibe keine Zeit. „Es wurde sehr viel Personal abgebaut. Das hat zu einer enormen Arbeitsverdichtung geführt“, sagt er. Birgit Schulz aus dem Stiftungsvorstand weist den Vorwurf, die Menschen vereinsamten in den Wohnungen, zurück. „Ich kenne Menschen, die nicht an Gruppenangeboten teilnehmen wollen“, sagt sie. Ob jemand allein im Zimmer esse oder in der Gemeinschaft, das hänge „von den Wünschen der Bewohnerinnen und Bewohner ab“.

Und was ist, wenn Menschen wie Jonas Saalmann ihre Wünsche nicht äußern können?

Ende der Achtzigerjahre lebten noch 800 Menschen in den sogenannten Alsterdorfer Anstalten im gleichnamigen Stadtteil. Heute sind es nur noch 31, die in einem übrig gebliebenen Gebäude wohnen. Die restlichen alten Anstaltshäuser hat die Stiftung abgerissen, 650 Menschen sind fortgezogen. Einige Angehörige haben sich einen Anwalt genommen und kämpfen nun dafür, dass schwerstbehinderte Menschen wieder in Wohngruppen leben dürfen. In einem Neubau auf dem gewohnten Gelände. Auch Saalmanns Betreuerin hofft auf einen solchen Platz.

Doch das gemeinsame Wohnen soll nicht wieder die Regel werden, darin sind sich die Stiftung und die Stadt Hamburg einig. „Vor dem Hintergrund der inklusiven Ausrichtung“, sagt Olaf Dittmann, Sprecher der Sozialbehörde (BASFI), sei „die ambulante Betreuung von Menschen mit sehr schweren Behinderungen im Sinne der BASFI“.

Die Idee, sagt Schulz von der Stiftung, sei eine Betreuung, die auf jeden einzelnen Menschen abgestimmt ist. Der Personaleinsatz richte sich „nach dem Assistenzbedarf der Menschen und ist individuell zu sehen“. Wenn es dennoch Probleme gebe, „müssen die Kolleginnen und Kollegen und die Angehörigen uns das unbedingt mitteilen“, sagt Schulz.

Die Pflegekräfte in der Mitarbeitervertretung wollen allerdings nicht von ihrer Situation berichten. Auf taz-Anfrage verweisen sie auf die Pressestelle der Stiftung Alsterdorf – also auf die Position des Vorstands. Die Rechtsabteilung der Stiftung hatte sie bereits in einem Informationsblatt darauf aufmerksam gemacht, dass sie auch bei Aussagen gegenüber der Polizei „die Genehmigung Ihre/s Vorgesetzten“ benötigten. Man wolle „den Mitarbeitenden etwas als Unterstützung an die Hand geben“, erklärt Stiftungssprecher Hans Georg Krings.

Was die Pflegekräfte von Jonas Saalmanns Situation halten, das weiß seine Betreuerin nicht. Die Helfer hätten oft zu wenig Zeit, glaubt sie. Im Regal in Saalmanns Zimmer steht ein Karton mit Musikinstrumenten. Sie legt ihm eine Ukulele auf den Schoß, zupft an den Saiten. „Ooh“, sagt Saalmann. Sie legt seine gekrümmte Hand auf das Instrument. Er braucht jemanden, der sich mit ihm beschäftigt, sagt sie. „Frische Luft“ und „die Gemeinschaft einer größeren Gruppe“, hat sie in den Brief geschrieben. In der Eppendorfer Wohnung bekomme er von beidem zu wenig.

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6 Kommentare

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  • MR
    Michael Riediger

    Endlich mal jemand, der deutlich und öffentlich sagt, wie es ist!!

    Gerade in der grünen oder links-sozial orientierten Polit-Szene wird der meines Erachtens renovierungsbedürftige Sozialhilfegrundsatz "ambulant vor stationär" zum Teil völlig unreflektiert und pauschal für jede "innovative" Idee (oder besser Sparmaßnahme) der Eingliederungshilfe als Begründung missbraucht. Individuelle, am wirklichen Bedarf orientierte Hilfen sind notwendig. Die können für jeden anders aussehen und sind in den plakativen Kategorien nicht sachgerecht erfasst. Aber so etwas kostet halt mehr und kann auch heißen, Leistungen 24Std-Rund-um -die -Uhr zur Verfügung stellen zu müssen, quasi stationär. Dabei ist die Größe der Einrichtung völlig irrelevant.

    Bei aller "Inklusion" werden das bald Leistungen sein, die sich "exklusiv" nur der leisten kann, der über entsprechende Mittel verfügt.

  • R
    Rolli

    Wie so oft wird eine an und für sich gute Idee von den Großeinrichtungen ins Gegenteil verkehrt. Zu Beginn der "Ambulantisierung" arbeitete ich mit davon betroffenen Menschen. Viele davon waren schon sehr alt und lebten seit 50 und mehr Jahren in der Einrichtung. Auf ihre alten Tage hin sollten sie nun selbständig werden, sich selbst versorgen usw. All das also, was man ihnen Jahrzehnten verweigert hatte, was sie nicht lernen durften. Nichtbehinderte Menschen lernen dies in aller Regel im Jugend- oder jungem Erwachsenenalter.

    Eine entscheidende Vorraussetzung um nicht zu vereinsamen ist die Fähigkeit Kontakte knüpfen, sich verabreden zu können, seine Freizeit selbst planen zu können. Ich habe deshalb oft nachgefragt, ob die Menschen ein Adressbuch haben und einen Kalender. Dabei war es bei fast allen so, dass sie die meisten Bekannten in der Werkstatt und in der Wohngruppe, im Wohnheim hatten. Bislang war es für sie deshalb nicht erforderlich für sie sich zu verabreden. Oft hatten sie keine Telefonnummern voneinander. Außerdem waren die wenigsten in der Lage über Zeitungen, Internet usw. an Freizeit-Tipps, Veranstaltungshinweise usw. zu kommen. Da sie zudem sehr wenig Geld haben ist die selbständige Freizeitgestaltung oft nur eingeschränkt möglich.

    An diese kleinen, aber grundlegenden Dinge wird oft nicht gedacht.

    Insofern kommt es nicht nur bei Menschen mit schweren Behinderungen und Kommunikationseinschränkungen zur Vereinsamung, sondern bei sehr vielen.

  • FB
    Frieda Büchner

    Der Grundgedanke des Artikel ist sehr nachvollziebar und anscheinend bedarf es von Seiten der Stiftung Alsterdorf noch sehr viel mehr an Transpaenz und Aufklärungsarbeit, die zur Vergangenheit, Zukunft, aber auch Gegenwart noch nachzuholen ist.

    Aber mal abgesehen von den "Zitaten", wenn man das so nennen kann und den wenigen Einblicken und tatsächlichen Meinungen der Mitarbeitenden, basiert der Artikel leider auf zu wenigen Meinungsbildern und Einblicken und keinen belegten Quellennachweisen und leider sogar falschen Fakten (zB. wurden in den letzten zehn Jahren keine Anstalten aufgelöst, sondern Wohnheime-- wie z.B das Carl-Koops-Haus und das Wilfried-Borg-Haus). Ich finde es schade, dass so ein sensibles

    relevantes Thema nicht unter allen Gesichtspunkten beleuchtet wird und der kleine Einblick in die neue Wohnform für behinderte Menschen eher spekulativ wirkt und nicht kritisch argumentativ.

  • E
    EvoluSiN

    “Mitarbeiter der Behindertenhilfe zwischen Paradigmenwechsel und leeren Etats – Der stationäre Wohnbereich schwerstmehrfachbehinderter Menschen im heutigen Sozialstaat” ist der Titel meiner Abschlussarbeit als Heilerzieher 2003 und die Stiftung Alsterdorf zu Beginn ihres Paradimenwechsels. Ich bitte dies als Ergänzungsvorschlag zu verstehen: http://evolusin.wordpress.com/2009/10/26/mitarbeiter-der-behindertenhilfe-zwischen-paradigmenwechsel-und-leeren-etats-der-stationare-wohnbereich-schwerstmehrfachbehinderter-menschen-im-heutigen-sozialstaat/

  • B
    B.Wondraschek

    Hier arbeiten wohlmeinende Ideologen den kalten Geldsparern in die Hände. Jemanden im Apartement verrotten zu lassen ist billiger, als ihn rund um die Uhr betreuen zu müssen. Punkt.

    Die Inklusion führt nicht nur bei den Menschen der Alsterdorfer Anstalten in vielen Fällen dazu, dass Menschen vereinsamen und aus dem kritischen Blickfeld der Öffentlichkeit verschwinden.

    Ein anderes Beispiel sind Sonderkindertagesstätten, die im Namen der inklusion geschlossen werden. Viele von den Betroffenen werden in den Regelkindergärten abgewiesen, weil die ihre "I-Plätze" schon besetzt haben. Andere Kindergärten halten sich glatt und zu Recht für überfordert mit einem Menschen, der kaum in einer Gruppe von 6 Kindern zurecht kam und jetzt den Wirbel von 22 Kindern aushalten soll. Konsequenz: Das Gör bleibt zuhause, auf kurze Sicht Geld gespart.

  • WB
    Wolfgang Banse

    Heimunterbringungen sind Ghettos,die nicht mehr praktiziert werden sollten,im Bezug auf die Integration und Rehabilitation