Neue TV- und Streaming-Trends: „Jetzt ist Eskapismus pur gefragt“
Am Montag eröffnet die Mipcom in Cannes, die größte Messe für TV-Produktionen. In schwierigen Zeiten braucht es leichte Themen, sagt Jens Richter.
taz: Herr Richter, sinkende Werbeeinnahmen, Inflation, der Krieg in Europa – geht die Zeit der Hochglanz-Serien zuende?
Jens Richter: Wir produzieren überall auf der Welt und in allen Genres. Denn der Bedarf nach hochwertigen Inhalten ist bei Sendern und Streamern immer noch hoch. In Cannes bieten wir wieder ein großes Angebot, darunter zahlreiche neue hochwertige Serien: Etwa die Militär-Comedy-Serie „C*A*U*G*H*T“ mit Sean Penn und Matthew Fox, die wir zusammen mit der australischen Plattform Stan und dem englischen Sender ITV produziert haben.
Aber wie setzen Sie angesichts eines stagnierenden Marktes solche Projekte, die pro Stunde zwischen 3 und 3,5 Millionen Euro kosten, um?
Wir müssen genau schauen, wie wir eine globale Resonanz erreichen. Durch die Inflation sind auch TV-Produktionen deutlich teurer geworden, während unsere Kundschaft wegen sinkender Werbeeinnahmen nicht mehr Geld ausgeben kann, eher weniger. Sie hat aber auch die Herausforderung, dass es viel mehr Plattformen als noch vor fünf Jahren gibt. Also kann nicht auf hervorragende Produktionsqualität sowie internationale Stars verzichtet werden, um sich im härteren Wettbewerb abzuheben. Für uns sind Koproduktionen mit anderen, internationalen Partnern dabei wichtiger denn je, um die Finanzierung solcher Premiuminhalte zu gewährleisten. Und die Themen müssen natürlich stimmen.
Jens Richter gehört zur Geschäftsführung von Fremantle und ist CEO Commercial and International. Das Londoner Tochterunternehmen der RTL Group ist eine der global führenden Produktions- sowie Vertriebsfirmen. Anlässlich der Mipcom werden Richter und sein Team auch deutsche Produktionen wie „Gute Freunde – der Aufstieg des FC Bayern“ einer internationalen Käuferschaft anbieten.
Welche Themen sind denn zurzeit gefragt?
Im Unterschied zu vor fünf Jahren ist Unterhaltung wichtiger geworden. Wenn die Zeiten schwierig sind, müssen die Themen leichter sein. Wirtschaftskrise, Migration, die Veränderung der Arbeitswelt durch KI und vor allem der Krieg auf unserem Kontinent haben die Menschen beunruhigt. In Boomphasen funktionieren schon öfter mal Galgenhumor oder Inhalte, die auf die Schadenfreude des Publikums abzielen. Jetzt ist Eskapismus pur gefragt, Comedy etwa oder auch Crime, weil sich die Zuschauerschaft mit auf die Rätseljagd begeben kann. Ebenso sind im Dokubereich aufwändige Natur-Reihen, die fremde, exotische Welten vorstellen, und Biografhien angesagt. Wir präsentieren auf der Mipcom etwa den Vierteiler „Whale with Steve Backshall“ und „House of Kardashian“ über die Ursprünge der Kardashian-Familie, die das im Unterhaltungssektor wahrscheinlich erfolgreichste Familienbusiness aufgebaut hat, das es jemals gab. Auch sie sind ein weltweites Medienphänomen.
Sie bieten aber auch den Vierteiler „Big Mood“ an, der sich mit psychischen Krankheiten auseinandersetzt …
Ja, aber wir machen es als Comedy, und das bewusst. Der Bereich Mental Health ist wichtiger geworden. Covid und Lockdown waren dafür wichtige Katalysatoren. Es ist ein allgegenwärtiges Thema, das man ansprechen muss. Und da ist Unterhaltung ein gutes Vehikel, um es zu transportieren, zugänglich zu machen und zu signalisieren: Du bist damit nicht allein.
Was glauben Sie, wohin sich der TV- und Streamingmarkt bewegt?
Im Moment erleben wir eine ganz neue Entwicklung: Bis vor zwei Jahren gab es eine klare Trennung von Free TV und Streaming-Abos. Diese beiden Märkte kommen jetzt mehr zusammen. Seit Netflix eine günstigere Variante mit Werbung angeboten hat, mit der sie mehr Gewinne erzielen als mit dem bisherigen Modell, sind andere Plattformen wie Hulu oder HBO nachgezogen. Auch die Programme für Plattformen sollten daher zukünftig werbefreundlich sein.
Und werden die Plattformen endlich in die Gewinnzone kommen?
Die Plattformen mussten sich in den ersten Jahren auf Abo-Wachstum konzentrieren, weniger auf das Geldverdienen, was vom Aktienmarkt belohnt wurde. Als im März letzten Jahres die Netflix-Abonnements nicht gewachsen sind, hat das zur großen Unruhe im Markt geführt und auch die anderen Plattformbetreiber unter Druck gesetzt: Sie alle müssen in nächsten zwei Jahren in die Gewinnzone kommen. Es wird wahrscheinlich zu Überahmen oder Fusionen kommen.
Und wie sehen Sie den deutschen Markt?
In Westeuropa gibt es einen hohen Wettbewerb, da die USPlayer mit ihren Plattformen hier nun komplett angekommen sind. Im Gegenzug sieht man bei RTL und ProSiebenSat.1 starke Initiativen im Onlinebereich. Ebenso bei Magenta und den öffentlich-rechtlichen Sendern. Der größte Fernsehmarkt Europas funktioniert jedenfalls immer noch gut.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Schwedens Energiepolitik
Blind für die Gefahren