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Neue Dialogform beim 1. FSV Mainz 05Fans sollen wieder motzen dürfen

In Mainz diskutieren Fußballanhänger mit dem Trainer. Vorbildlich! Die Coronakrise eröffnet Chancen für eine neue Kommunikation.

Auf Augenhöhe: Fan redet mit Zeigefinger auf FSV-Trainer Jan-Moritz Lichte ein Foto: dpa

D as passiert nicht alle Tage in der Bundesliga: Nach der 0:1-Niederlage gegen Bayer Leverkusen lieferte sich Jan-Moritz Lichte, vorübergehend beförderter Trainer bei Mainz 05, einen erregten Wortwechsel mit einem Fan und kommentierte anschließend auf der Pressekonferenz: „Ich hatte das Gefühl, dass wir darüber sprechen müssen.“

Die Zuschauer, das waren an diesem Samstagnachmittag 250 an der Zahl. Einigermaßen überschaubar, was sich unter den gebotenen Hygienemaßnahmen in der Mainzer Arena eingefunden hat.

Woran Jan-Moritz Lichte nach diesem ersten Heimspiel als neuer Interimstrainer gemessen wird, ist sicherlich die sportliche Leistung seiner Mannschaft, die in einer bemerkenswert vertrackten Krise steckt. Was jedoch nicht mit Strategien und Personalumstellung zu bewerkstelligen ist, ist die emotionale Bindung eines Fußballvereins zu seinen Fans.

War nicht zuletzt der gemeine Anhänger auf eine harte Probe gestellt. Beginnend mit der Unterbrechung der Liga im März und einigen fragwürdigen Finanzentscheidungen wie etwa bei Schalke, machte sich auch die Sorge breit, eine frühe Rückkehr zum Spielbetrieb könne die Liga gänzlich zum Implodieren bringen.

Große Kluft

Mittlerweile ist der Weg für eine neue Normalität geebnet und, je nach Lage und Umstand einer Partie, dürfen mitunter wieder mehrere 1.000 Fans in die Stadien. Gäbe es eine Zeit, in der Verantwortliche das immer tiefer klaffende Tal zwischen Anhängern und Verein überbrücken könnten, wäre sie jetzt.

„Wir müssen noch 20 Minuten mit der Pressekonferenz warten, der Trainer spricht zuerst mit den Fans.“

Was im Amateurfußball noch gelebt wird, bekommt in den hohen Sphären der Millionenliga kaum mehr Aufmerksamkeit. In einem vollen Stadion lässt sich die Stimmung unter Pfiffen, Jubel oder sonstiger Spielbegleitung gar nicht ausklammern. Wellen der Euphorie und Empörung, dazwischen beruhigendes Raunen. Wo sich jetzt der Klangteppich auf einige hundert Fans reduziert, sehen sich die Verantwortlichen auf dem Platz einer fast direkten Meinungsäußerung gegenüber.

Sicherlich möchte man nicht jedem Wutausbruch den Raum geben, sich in seiner ganzen Arroganz zu entfalten, schließlich wissen es Fans oftmals besser als der Spieler selbst, dem nach sieben gelaufenen Kilometern in einer Spielsituation vielleicht der ganz große Überblick fehlte. Aber wenn man noch träumen darf, ist doch ein erster Schritt in Wiedergutmachung getan, fände zur Abwechslung mal eine direkte Interaktion zwischen Mannschaft und Zuschauern statt. Wenn möglich nach dem Spiel.

Selbstverständlich gilt auch hier Etikette. Auf blinde Wut reagiert man bestenfalls gar nicht. Aber so ein Verein mit seinen Anhängern darf auch nicht vergessen, dass auch denen vieles abverlangt wurde in diesem laufenden Fußballjahr. Mit der gebremsten Rückkehr in die Stadien holt sich der zuletzt ohnmächtige Zuschauer ein Erlebnis zurück, dass es außerhalb dieser Ränge nicht zu ersetzen gibt. Nie hatte die Fußballelite eine derart realistische Chance, neue Impulse zu setzen, vor allem in der Kommunikation. Und wenn sie nicht durchprofes­sio­nalisiert und gedrosselt auf Pressekonferenzen stattfindet, irren lauwarme Gags durch Social-Media-Kanäle.

Das alles ließe sich mit der direkt an die Fans gerichteten Frage umgehen: Na, wie schätzt ihr das ein? Ein zugegeben unrealistisches Szenario. Aber wenn der Trainer eines gebeutelten Bundesligisten von einem „Meinungsaustausch“ mit den Anhängern spricht, klingt das nach Augenhöhe und Respekt und hat das Potenzial für eine Vorbildfunktion. Letztlich meint Jan-Moritz Lichte nicht nur sich und seine Mannschaft, wenn er resümiert: „Ich glaube, wir müssen es gemeinsam schaffen.“

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