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Neue Bürgermeisterin vor der WahlWie Danzig zusammenrückt

Nach dem Mord an Bürgermeister Pawel Adamowicz ist die Solidarität in die polnischen Küstenmetropole zurückgekehrt.

Schon als Kind auf Opposition getrimmt: Aleksandra Dulkiewicz soll neue Rathauschefin werden Foto: Michal Fludra/Nur Photo/picture alliance

Danzig taz | „Ich möchte, dass Danzig eine offene und solidarische Stadt bleibt“, sagt Aleksandra Dulkiewicz und reicht einer Wählerin einen Becher dampfenden Kaffees. Bis zum kommenden Sonntag sind es nur noch wenige Tage: Dann ist Wahltag in Danzig, es geht um den Posten des Oberbürgermeisters.

Doch nach dem brutalen Mord an Pawel Adamowicz, dem bisherigen Chef der Ostseemetropole, verbietet sich jede laute Kampagne. Mitte Januar hatte ein 27-jähriger Krimineller den gerade erst wiedergewählten Adamowicz erstochen. Noch untersuchen Staatsanwälte und Psychiater die Hintergründe und Motive des Attentats.

Ernsthafte Gegenkandidaten hat die 39-jährige bisherige Stellvertreterin von Adamowicz nicht. Weder die nationalpopulistische Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) noch die größte Oppositionspartei, die liberalkonservative Bürgerplattform (PO), haben Kandidaten aufgestellt.

Sie hätten aktuell bei den Danzigern auch keine Chance. Der schmutzige Wahlkampf gegen Adamowicz vor einigen Monaten ist den Menschen in denkbar schlechter Erinnerung. Ihre einzigen Gegenkandidaten sind zwei Rechtsradikale, die in der Stadt am Meer keinerlei Chance haben.

Aleksandra war schon als Kind mitten in der Politik

Aleksandra Dulkiewicz ist als Sozialdezernentin hoch angesehen. Die Juristin und alleinerziehende Mutter einer elfjährigen Tochter hat soziale Themen – Krippen und Kindergärten, Sozialstationen, Altersheime und Hospize – an die Spitze ihres Wahlprogramms gestellt. Vor allem aber setzt Dulkiewicz auf Kontinuität der Amtsführung ihres ermordeten Vorgängers.

Schon als Kind haben ihre Eltern die kleine Ola – der Kosename von Aleksandra – auf Streiks der Solidarność gegen das kommunistische Regime mitgenommen. Das Mädchen saß bei politischen Diskussion nach der sonntäglichen Messe in der Dominikaner-Kirche St. Nikolaus. Sie lernte Lech Wałęsa kennen, den legendären Arbeiterführer und späteren Friedensnobelpreisträger und Staatspräsidenten Polens.

Ich möchte, dass Danzig eine offene und solidarische Stadt bleibt

Aleksandra Dulkiewicz,Bürgermeister-Kandidatin

Dem späteren Oberbürgermeister Adamowicz begegnet sie zum ersten Mal 1990 auf einem Rummelplatz. Da hatte der schon sein Jurastudium abgeschlossen und war in den ersten frei gewählten Stadtrat von Danzig gewählt worden. Sie ging noch in die sechste Grundschulklasse und spielte mit Adamowiczs Patenkindern Julia und Pawel.

2006, nach Abschluss ihres Studiums, wird sie zunächst Assistentin in Adamowicz’ Büro, der bereits Oberbürgermeister ist, wechselt später ins Europäische Solidarność-Zentrum, wird schließlich Stadträtin. Seit 2017 ist sie Stellvertreterin von Adamowicz, übernimmt das Sozialdezernat und organisiert 2018 den Wahlkampf für den populären Bürgermeister.

Auch bei Juden hoch verehrt: der ermordete Adamowicz

In der Neuen Synagoge im Stadtteil Wrzeszcz, dem früheren Langfuhr, dort wo der spätere Literaturnobelpreisträger Günther Grass aufwuchs, zeigt der Gemeindevorsitzende Michal Samet, den großen Gebetssaal im ersten Stock und den kleinen, den die Gemeinde normalerweise nutzt. „Als Adamowicz starb und wir hier einen Trauergottesdienst für ihn abhielten, kamen so viele Gemeindemitglieder und Freunde, dass wir fast in den großen Saal umgezogen wären. Am Ende entschieden wir uns, hier unten ein bisschen enger zusammenzurücken.“

Er hängt den schwarzen Hut, den er zum dunklen Anzug trägt, an einen Garderobenständer, deutet auf ein Fenster und sagt: „Wir vermissen Adamowicz sehr. Als jemand einen Stein durch dieses Fenster warf und fast eine Betende am Kopf getroffen hätte, verdammte er den Anschlag sofort in aller Öffentlichkeit. Das werden wir ihm nie vergessen.“

Michal Samet ist davon überzeugt, dass die Hetzkampagne im öffentlich-rechtlichen Rundfunk letztlich zum Mord an dem Bürgermeister geführt haben. „Aber seither ist in Danzig etwas Seltsames geschehen“, fügt er nachdenklich hinzu. „Wir Danziger sind plötzlich viel freundlicher zueinander. Fast alle. Das musste niemand anordnen. So wie unsere Gemeinde damals, sind wir Danziger alle näher zusammengerückt.“

Auf einem Tisch in der Nähe des Fensters liegen verschiedene Broschüren zum Mitnehmen, darunter auch eine über das Europäische Solidarność-Zentrum in der ehemaligen Danziger Leninwerft. „Dass die PiS es wagte, das Europäische Solidarność-Zentrum anzugreifen und ihm plötzlich mehrere Millionen Złoty aus dem Budget strich, war so, als würde jemand einem Toten nachtreten. Ungeheuerlich, war das!“ Er bückt sich, sucht in den Schubladen nach weiteren Broschüren und legt sie auf die Tischplatte.

„Wir Danziger wollen frei sein!“

„Das Europäische Solidarność-Zentrum war doch sein Kind. Und es ist kein Zufall, dass er dort aufgebahrt wurde und nicht in der Marienkirche. So konnten alle von ihm Abschied nehmen, wir Juden, die Muslime, die Protestanten, die Atheisten, und natürlich auch die Katholiken. Wir standen alle in einer langen Schlange vor dem Sarg.“ Samet ist überzeugt, dass viele Danziger heute erneut das Gefühl haben, für Freiheit und Demokratie kämpfen zu müssen. „Es ist einfach so: Wir Danziger wollen frei sein!“

Mit der Straßenbahn geht es von Manhattan, wie die Gegend rund um die Synagoge auch genannt wird, in rund einer halben Stunde bis zur ehemaligen Danziger Lenin-Werft. Das berühmte zweite Tor, das während der großen Streiks 1980 und 1981 immer wieder im Fernsehen gezeigt wurde, steht noch. Davor befindet sich das Denkmal mit den drei hoch in den Himmel reichenden Kreuzen, erinnernd an die erschossenen Werftarbeiter im Jahr 1970. Dahinter das riesige rostrote Gebäude des Europäischen Solidarność-Zentrums.

Von der einen Seite wirkt es wie ein noch unfertiger Tanker, von der anderen wie eine der Werfthallen, in denen einst Tausende Arbeiter Schiffe bauten. Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus blieben die Aufträge aus der ehemaligen Sowjetunion aus. Die Werft ging pleite und musste die Arbeiter entlassen, die zuvor jahrelang bei Solidarność für die politische Wende gekämpft hatten.

„Polnisches Biedermeier“ nennt Basil Kerski, der Direktor des Europäischen Solidarność-Zentrums, das Streben der Polen nach Politikferne, die neue Lust am Reisen, gutem Essen und Konsum. Seit 2011 leitet der heute 49-jährige Politikwissenschaftler das Zentrum mit seiner großen Ausstellung zur Solidarność und den anderen Bürgerrechtsbewegungen in Mittel- und Osteuropa. Sein Haus fördert aber auch die heutige Zivilgesellschaft in Polen und die europäische Integration.

Der Rückzug ins Private ist in Danzig Geschichte

„Nach den Kämpfen der letzten Jahrzehnte gibt es seit einiger Zeit einen Rückzug der Menschen ins Private. Hier in Danzig ist das stark zu spüren. Die Leute sind die politischen Streitereien und Skandale, die mit ihrem Alltag absolut nichts zu tun haben, einfach leid.“ Doch eine Gesellschaft, die aufhöre, sich für politische Zusammenhänge zu interessieren, sei leicht zu manipulieren.

„Das haben wir auf der Höhe der Flüchtlingskrise 2015 gesehen. Die PiS schürte im Wahlkampf die Angst vor den Flüchtlingen. Und mit einem Mal kippte die Stimmung in Polen: Aus der bisherigen Hilfsbereitschaft wurde eine kalte Solidaritätsverweigerung.“

Kerski, der aus einer polnisch-irakischen Familie stammt und als Zehnjähriger mit seiner Familie von Danzig nach Berlin zog, dort zur Schule ging und auch studierte, fühlt sich stark mit seiner Geburtsstadt verbunden. Wenn er aus den Panoramafenstern in seinem Büro im vierten Stock blickt, sieht er die Danziger Werft und die für die Hafenstadt so charakteristischen Kräne. „Wir hatten also auf der einen Seite eine geschichtsmüde Nation“, fährt er fort, „auf der anderen Seite aber eine seit 2007 intensiv verfolgte Kulturpolitik, die großartige – auch im europäischen Maßstab – neue Institutionen schuf. Heute können die Polen voll Stolz auf die Philharmonie von Stettin verweisen und auf etliche hochmoderne Museen hier in Danzig, in Warschau, aber auch in Schlesien.“

Der Mord an Oberbürgermeister Pawel Adamowicz, die vorangegangene Hetzkampagne und schließlich die massive Attacke der PiS-Regierung auf das Europäische Solidarność-Zentrum habe die Danziger aus ihrem „privaten Biedermeier“ zurück ins politische Leben geholt. „Plötzlich begriffen viele, dass die so lang und bitter erkämpfte Freiheit wieder gefährdet ist und das Einzige, was sie retten kann, das eigene Engagement ist“, erklärt Basil Kerski. „Plötzlich kamen Tausende Menschen in unsere Ausstellung und wollten sich der bürgerrechtlichen Werte vergewissern, die 1989 zu einer friedlichen Revolution geführt hatten, aber auch heute noch gültig sind.“

Eine Folge des neuen politischen Engagements der Danziger ist eine Spendenaktion, zu der eine junge Schneiderin auf Facebook aufgerufen hat. Innerhalb von 24 Stunden gehen über drei Millionen Złoty auf dem Spendenkonto ein, genau jene Summe, die Polens Kulturminister Piotr Glinski (PiS) dem Europäischen Solidarność-Zentrum von einem Tag auf den anderen gestrichen hat. Es ist das Geld für das zivilgesellschaftliche und europaorientierte Programm. Basil Kerski sagt dazu: „Die Solidarität ist zurück!“

Am Danziger Hauptbahnhof, dort wo Aleksandra Dulkiewicz um Stimmen für die Wahl am Sonntag wirbt, herrscht Hochbetrieb. Viele der Pendler erkennen die Oberbürgermeisterkandidatin, klopfen ihr auf die Schulter, rufen einfach nur: „Sie haben meine Stimme“, und greifen nach Wahlplakat und Morgenkaffee.

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