Neue Ausstellung in Bremerhaven: Als die Grenzen offen waren
Mehr als 15 Millionen Menschen in Deutschland haben einen Migrationshintergrund. Im Deutschen Auswandererhaus eröffnete jetzt ein Erweiterungsbau, der ihre Geschichten erzählt.
BREMERHAVEN taz | Von 1952 bis 2010 sind 31.840.647 Menschen nach Deutschland eingewandert. Allein aus Italien kamen in diesem Zeitraum 4.410.747 Menschen nach Deutschland. Soweit die Fakten. Die werden Sie vermutlich spätestens in fünf Minuten wieder vergessen haben.
Wie ist es hiermit: Silvio Olivier stammt aus einer oberitalienischen Eismacherdynastie, die sein Großvater Valentino 1889 gründete, indem er sein Eis in den Sommermonaten in hübsch geschmückten Wägen in Süddeutschland verkaufte. Seine Söhne führten diese Tradition fort: Silvio wird 1907 im baden-württembergischen Rastatt geboren, flieht mit seiner Familie nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges nach Italien, kehrt in den 30er Jahren nach Deutschland zurück und macht im sächsischen Werdau eine Eisdiele auf.
1953 flieht Silvio erneut, dieses Mal heimlich nach Westberlin, und eröffnet wenige Monate später in Wolfsburg einen Eisladen – fast zehn Jahre bevor die ersten italienischen Gastarbeiter ins Volkswagen-Werk kamen. Seit Anfang 2012 führt sein Enkel Dino den Laden in dritter Generation.
Die Lebensgeschichte von Einwanderer Silvio werden Sie sich deutlich länger merken können als die bloßen Zahlen. Nach diesem Prinzip funktioniert das Deutsche Auswandererhaus in Bremerhaven, das mit seinem Sonntag eröffneten Erweiterungsbau eigentlich Deutsches Migrationshaus heißen müsste.
Denn in dem Museum werden jetzt nicht mehr nur 18 Familiengeschichten aus 300 Jahren Auswanderung erzählt, sondern auch 15 Lebensgeschichten von Einwanderern, die in den vergangenen 300 Jahren nach Deutschland kamen – ein Novum in der deutschen und europäischen Museumslandschaft. Bisher gab es keine Dauerausstellung, die sowohl der Auswanderung als auch der Einwanderung gewidmet ist.
„Die Überlegung für diesen Erweiterungsbau kam schon 2009 auf“, sagt Simone Eick, Direktorin des Deutschen Auswandererhauses, auf der Eröffnungsfeier. „Denn die spannenden Fragen ergeben sich genau an der Schnittstelle vom alten zum neuen Leben: Wann wird aus einem Auswanderer ein Einwanderer?“ Die Antwort soweit: „Einwanderung ist fließend“, sagt Eick, und aus diesem Grund werde hier immer die ganze Familiengeschichte bis zu den Kindern und Urenkeln erzählt.
Dass Gehen und Ankommen zusammengehören, wird im Auswanderhaus auch architektonisch aufgefangen – mit einer Brücke, die den binnen sieben Monaten entstandenen Neubau mit dem alten Gebäude verbindet. Von der Brücke aus blickt man hinaus auf den 1852 eröffneten Neuen Hafen, von dem bis 1890 knapp 1,2 Millionen Menschen von Bremerhaven aus in die Neue Welt aufbrachen.
Die beiden Häuser treffen sich auch inhaltlich dort, wo aus Auswanderern Einwanderer werden, denn hier wechselt der Besucher die Perspektive. Hat er vorher einen der 18 Auswanderer auf seiner Reise begleitet, betritt er nun das Deutschland des Jahres 1973, wie es die Einwanderer bei ihrer Ankunft erlebten.
Auch das Auswandererhaus ist erweitert worden. Im 2005 eröffneten Haupthaus, das 2007 mit dem Europäischen Museumspreis ausgezeichnet wurde, sind jetzt Versatzstücke des größten – und vielleicht schönsten – Bahnhofs der Welt nachgebaut, des 1913 eröffneten Grand Central Terminal in New York, der auch „das Tor zum amerikanischen Kontinent“ genannt wurde. Bislang endete die Reise der Besucher mit der Ankunft der Auswanderer in „Ellis Island“, der Insel im Hafen von New York, wo von 1892 bis 1954 nach oftmals quälend langer Atlantiküberquerung jeder Immigrant von den US-Behörden überprüft und untersucht wurde, bevor er an Land gehen durfte.
Jetzt werden die Geschichten ein Stück weitererzählt und die Besucher erfahren, wie sich die Ausgewanderten in den USA eingelebt haben, wie zum Beispiel Karl Otto Schulz, der Deutschland 1910 wegen der steigenden Arbeitslosigkeit den Rücken kehrte, sich in den USA ein neues Leben als Farmer aufbaute.
Über die Brücke geht es dann in den Neubau und durch eine Schwingtür mitten hinein in den Alltag von 1973, hinein in das Jahr, in dem die Bundesrepublik am 23. November den Anwerbestopp für ausländische Arbeitskräfte verhängte – und damit ihre Einwanderungspolitik veränderte. Einwandern kann seitdem nur noch, wer Familie in Deutschland hat, Aussiedler aus Osteuropa ist oder Asyl sucht.
Und genau wie im Altbau, wo beispielsweise eine Kaianlage um 1880 oder das düstere Zwischendeck eines Segelschiffes um 1850 detailgenau rekonstruiert wurden, taucht der Besucher auch in der neuen Ausstellung wieder in eine lebensechte Welt ein. Als Kulisse für die neue Ausstellung wurde eine Einkaufspassage gewählt, weil sie ein öffentlicher Ort ist, an dem alle Mitglieder einer Gesellschaft aufeinander treffen.
Hinter der Schwingtür wartet als erstes ein Kiosk mit Coca-Cola-Schriftzug, Capri-Sonnen, vergilbter Langnese-Werbung und einer Bild-Zeitung, die am 24. November 1973 titelt: „Grenzen zu für Gastarbeiter!“ In den Auslagen eines Antiquariats, eines Kaufhauses, eines Reisebüros, eines Fotogeschäfts und einer Eisdiele sind ganz alltägliche Gegenstände wie Kaffee, Hairstyling-Sets (ja, ein Fön mit sieben verschiedenen Aufsätzen wurde auch 1973 auf Englisch angepriesen) oder Ravioli-Dosen zu finden, aber auch Erinnerungsstücke wie Fotos oder Kinderwägen der 15 Einwandererfamilien.
In einem der Schaufenster liegen auch eine silberne Eisschale und ein Eisportionierer aus den 1950er Jahren – aus dem Besitz der Familie Olivier. Ganz abgesehen davon, dass die Besucher hier wie nebenbei erfahren, was Zuwanderer und die nachfolgenden Generationen von ihrer alten Heimat aufheben, wie sie hier leben, arbeiten und lieben, funktioniert dieser Raum auch hervorragend als Rückblick in die 1970er Jahre. Wussten Sie noch, dass 1973 ein Digital-Klappzahlenwecker von Braun 108 Mark und ein tragbarer Telefunken Fernseher 598 Mark kostete?
Diese Mischung aus Lebenswelt und Fakten macht das Auswandererhaus so lebendig – und auch wirtschaftlich erfolgreich. In sieben Jahren haben rund 1,4 Millionen Besucher die Ausstellung besucht und das Alltagsgeschäft läuft hier ganz ohne öffentliche Zuschüsse. Auch ein Grund, wieso der 4,5 Millionen teure Erweiterungsbau mit zwei Millionen Euro vom Bund bezuschusst wurde. Die absolute Ausnahme, denn eigentlich sind Museen Ländersache.
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