Neuauflage von Goethes Lieblingscomics: Wenn Frauen vor Wut platzen

Mit „Die Liebesabenteuer des Monsieur Vieux Bois“ schuf Rodolphe Töpffer 1830 eines der ersten Comics. Und hatte gleich einen ganz besonderen Fan.

Auszug aus dem Comic „Die Liebesabenteuer des Monsieur Vieux Bois und andere Geschichten“

Szene aus dem Comic „Die Liebesabenteuer des Monsieur Vieux Bois und andere Geschichten“ Foto: avant-Verlag

Wie sieht es aus, wenn Frauen vor Wut platzen? Der Schweizer Schriftsteller und Zeichner Rodolphe Töpffer hat den Vorgang erstmals 1830 in einer Zeichnung dargestellt. Wie kam es dazu? Der passionierte Schmetterlingsjäger Monsieur Crytogame wird von seiner Bekannten Elvire zur Heirat gedrängt. Doch der überzeugte Junggeselle ergreift die Flucht. Elvire verfolgt ihn über die Weltmeere, riskiert für ihre Liebe sogar ihr Leben. Am Ende vergeblich: Cryptogame heiratet eine andere. Elvire platzt. Buchstäblich.

Dies sind die Grundzüge der Handlung von „Monsieur Cryptogame“, einem „komischen Bilderroman“, den Rodolphe Töpffer schrieb und zeichnete, 1845 erstmals veröffentlichte. Im Gegensatz zu damals üblichen illustrierten Romanen hatten die Zeichnungen hier keinen illustrierenden Charakter – sie standen im Mittelpunkt, der Text diente nur als ergänzende Beschreibung.

Die wesentlichen Grundelemente eines Comics waren geboren. Der greise Johann Wolfgang von Goethe bekam die Rohfassung von „Monsieur Cryptogame“ als einer der ersten Leser 1831 in die Hände (neben einer gezeichneten „Faust“-Version Töpffers, „Le Docteur Festus“) und war entzückt: „Töpffer ist Original durch und durch. Es funkelt alles von Talent und Geist!“ Goethe ermunterte Töpffer, weiterzumachen, er spürte das Potenzial, das in dieser neuartigen Erzählform steckte.

Eine Erzählform, die Wilhelm Busch rund 20 Jahre später auf eigene Art weiterführen wird und die sich schließlich um 1900 in Amerika als eigenständige Kunstform durchsetzen wird, als Comic, wie wir ihn heute noch kennen.

Typisch für Töpffers schwarzen Humor

Schon zu Töpffers Lebzeiten waren seine Werke ein Renner. Sie wurden in Frankreich, England und Deutschland gedruckt und zogen zum Ärger des Urhebers viele Plagiate nach sich, die es bis nach Übersee schafften. Aber es gab auch Künstler wie Gustave Doré, die zu eigenständigen, ebenfalls comicähnlichen Werken inspiriert wurden.

Warum ist Töpffer heute – zumindest im deutschsprachigen Raum – so unbekannt? Jahrzehntelang gab es keine Ausgabe seiner Werke, west- und ostdeutsche Reprints aus den 1960er und 1970er Jahren gaben seine Geschichten in nur kleiner Auflage und in schlechter Druckqualität wieder. Der Berliner avant-verlag legt nun eine Auswahl mit drei kompletten Geschichten vor, die der Comiczeichner Simon Schwartz zusammengestellt hat, eine Art „Best of Töpffer“. Insgesamt hatte dieser acht „komische Bilderromane“ (eine Bezeichnung Töpffers; heute würde man sie als Graphic Novels bezeichnen) und einige Fragmente hinterlassen.

Rodolphe Töpffer wurde 1799 als Sohn eines Malers im französischsprachigen Genf geboren. Er blieb dort ansässig, arbeitete als Lehrer, gründete sein eigenes Pensionat für Schüler. Beeinflusst von den Lehren Rousseaus, liebte er weite Wanderungen, die er zusammen mit seinen Schülern unternahm. Diese Erlebnisse hielt er in Skizzenbüchern fest, die er zu ersten komischen Bildreportagebüchern, den „Voyages en zigzag“ umarbeitete, und legte so den Grundstock für seine späteren Bilderromane. In denen wurden ebenfalls Odysseen zurückgelegt, die Ländergrenzen schlicht ignorierten.

Die Begeisterung seiner Schüler musste groß gewesen sein, als sie die erste Geschichte „Monsieur Vieux Bois“ zu lesen bekamen, und Töpffer nahm manche ihrer Ideen in die Handlung auf. Schon dieser Comic (hier in der von Töpffer überarbeiteten Version vorliegend) zeigt die wilde Fantasie seines Schöpfers, der seine Titelfigur als lächerlichen Liebesnarren zeichnet, der die ihm gegenüber gleichgültige Angebetete, das „geliebte Ding“ (im Original: „objet aimé“), gegen viele Widerstände zu erobern versucht. Zwischendurch verübt er zahlreiche Selbstmordversuche, die stets missglücken.

Ein früher Running Gag, der typisch für Töpffers schwarzen Humor ist.

Zwischen Satire und Slapstick pendelnder Erzählstil

Auch Töpffer hatte seine Vorbilder: Bereits im 18. Jahrhundert gab es in England Künstler, die in satirischen Bilderfolgen die Lebensumstände der Bürger abbildeten. Wie Simon Schwartz in seinem kundigen Vorwort feststellt, regten vor allem William Hogarths sozialkritische Kupferstichzyklen schon den Vater Wolfgang Adam Töpffer zu eigenen Karikaturen an, bevor sie den Sohn inspirierten.

Angesichts der nun vorliegenden Auswahl von drei der besten Geschichten Rodolphe Töpffers wird schnell klar, dass der Schweizer den Engländer als Comicpionier überflügelte. Töpffer schuf die ersten Bildergeschichten, die in Sequenzen erzählten, also Bilder und Texte zu einer neuen Sinneinheit verbanden. Zugleich waren es die ersten langen Comicerzählungen (die Geschichten erstrecken sich jeweils über 70 bis 90 Seiten), die eine durchgängige Handlung mit einem oder mehreren Protagonisten hatten. Töpffer entwickelte dafür einen eigenen, zwischen Satire und Slapstick pendelnden Erzählstil – und den dazu passenden flüssigen Zeichenstil, der zum Weiterlesen anregt.

Auszug aus dem Comic „Die Liebesabenteuer des Monsieur Vieux Bois und andere Geschichten“

Szene aus dem Comic „Die Liebesabenteuer des Monsieur Vieux Bois und andere Geschichten“ Foto: avant-Verlag

In der Figur des „Monsieur Pencil“, der Titelfigur der zweiten und stärksten Geschichte der Auswahl, zeigte sich der Schweizer höchst selbstironisch, indem er den Künstler an sich liebevoll und zugleich bissig karikierte. Die Erzählung beginnt damit, wie der Künstler Pencil seine gerade fertiggestellte Landschaftszeichnung selbstherrlich von allen Seiten betrachtet und jeweils höchst „zufrieden“ mit ihr ist.

Doch dann kommt ein schelmischer Zephyr, ein Windgott, ins Spiel, der das Blatt in die Luft hebt und in der Folge auch das Schicksal einiger bislang behaglich dahinlebender Menschen durcheinanderwirbelt.

Experimente mit Außerirdischen

In überraschend modernen Parallelmontagen entwickelt Töpffer mehrere Handlungen und Charaktere zu einem aberwitzigen Plot, der auch politische Dimensionen entfaltet und entlarvt, auf welch wackeligen Beinen etwa Wissenschaft und Politik stehen. Ein typischer Gelehrter, der von den Sternen träumt und noch den armseligsten Gedanken sauber aufzuschreiben pflegt, sieht in einem harmlosen Bürger einen Außerirdischen und sperrt ihn zu Studienzwecken in einen Käfig. Und ein kleiner Hund, der sich im Telegrafenmast verfängt, löst eine Turbulenz aus, die zu Mobilmachung und revolutionsähnlichen Zuständen führt – zu Töpffers Zeit eine Horrorvision, da die Französische Revolution mit ihren Gräueln noch in lebhafter Erinnerung war.

Obwohl Töpffer als konservativer Bürger in der Biedermeier-Zeit lebte und selbst auch ein erfolgreicher Politiker wurde, ist er als scharfer Beobachter der damaligen Gesellschaftsverhältnisse zu entdecken. Seine zahlreiche Erfindungen in Erzählweise und Bildsprache wiesen weit in die Zukunft. Absurde Wiederholungen etwa, wenn in „Monsieur Cryptogame“ bei gleicher „Kameraeinstellung“ erst die Hauptpersonen fliehend von einem Schiff ins Meer springen und dann die Besatzungen und Tiere ihnen sinnlos nacheifern.

Die Handlungen jagen mit irrer Geschwindigkeit oft von einer Unwahrscheinlichkeit in die nächste, aber so pointensicher, als folgten sie einer bereits bewährten Dramaturgie. Running Gags folgen auf Parodien damals gängiger Genres, wie von Liebes-, Reiseromanen oder Schäferidyllen.

Rodolphe Töpffer: „Die Liebesabenteuer des Monsieur Vieux Bois und andere Geschichten“. avant-verlag, Berlin 2016, 280 Seiten, 39,95 €.

Dabei sind die Figuren herrliche Karikaturen typischer Zeitgenossen – Männer sind oft eitle, versponnene Gecken, Frauen entweder dickliche Schönheiten oder dürre Stalkerinnen, Soldaten sind oft trunken und schießwütig. Niedliche Hunde entdeckt Töpffer als unterhaltsame Sidekicks, die schnell abmagern und zunehmen können.

Die vorbildlich edierte Ausgabe macht Lust auf die weiteren Geschichten Töpffers, die Schwartz im Vorwort erwähnt. In seinem Text „Essai de physiognomonie“ hatte der Schweizer, der schon 1846 verstarb, sogar nichts weniger als die erste theoretische Abhandlung über Comics vorgelegt.

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