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Stilwille und Rauch

Elisabeth Edl hat Flauberts großen Desillusionsroman „L’Éducation sentimentale“ neu übertragen. Der deutsche Titel lautet jetzt „Lehrjahre der Männlichkeit“. Was ist dran an dem Anspruch der prächtigen Ausgabe, eine kanonische Übersetzung vorzulegen?

Eine Bootsfahrt auf der Seine: So beginnen Lehrjahre der Männlichkeit Foto: Chris Hellier/Corbis/getty images

Von Stephan Wackwitz

Es ist, schon rein äußerlich, eine prachtvolle neue deutsche Ausgabe der „Éducation sentimentale“, gedruckt und ausgestattet wie zu Zeiten, als es noch einen Unterschied zwischen Hard- und Paperbacks gegeben hat: wunderbares Papier, Leinen, zwei verschiedenfarbene Lesebändchen, ein ausführliches, kenntnisreiches Nachwort, verlässliche und ausführliche Anmerkungen. Und: ein kanonischer Anspruch. Dieser Anspruch konzentriert sich in der Neuübersetzung des Titels, der nun „Lehrjahre der Männlichkeit“ lautet. „Für fast alle großen Romane der Weltliteratur“, schreibt die Übersetzerin Elisabeth Edl, „setzt sich irgendwann auch in der fremden Sprache ein kanonischer Titel durch.“

Der Einfall, den größten Roman des französischen 19. Jahrhunderts über den Titel mit dem bedeutendsten deutschen des 18. Jahrhunderts – mit Goethes „Lehrjahren“ nämlich – zu verbinden, stammt von dem Journalisten, Lektor und Übersetzer Paul Wiegler, der die „Éducation sentimentale“ in seiner 1951 posthum erschienenen Übersetzung als „Lehrjahre des Gefühls“ betitelte. Elisabeth Edl geht einen Schritt weiter und zieht zur Namensgebung einen feministischen Roman der deutschen Romantik heran, Friedrich Schlegels „Lucinde“. Dort wird die Entwicklung der männlichen Hauptperson bis zur entscheidenden Begegnung mit jener verführerischen und freiheitsliebenden Lucinde in einem „Lehrjahre der Männlichkeit“ überschriebenen Kapitel geschildert.

Flaubert kannte Schlegels „Lucinde“; in der „Ur-Éducation“ von 1845 heißt eine der Figuren so. Wenn dem Rückgriff auf Schlegel trotzdem eine gewisse Willkürlichkeit (und nicht zuletzt eine denkbar unhistorische Verbeugung vor gegen­wärtigen Genderdebatten) anzumerken ist, liegt das auch daran, dass der Bezug auf Goethe schon in den frühen fünfziger Jahren den Gattungscharakter der „Éducation“ eigentlich verfehlt hat.

Denn anders als bei Goethe, der das allmähliche Hineinwachsen des Helden und seiner Illusionen in die Realitäten der bürgerlichen Gesellschaft schildert, bleibt bei Flaubert weder von der Gesellschaft noch von seinem Helden etwas Nennenswertes übrig. „Bildung“ ist das Ziel der von Goethe inaugurierten deutschen Romantradition. In der französischen dominiert der bei Flaubert kulminierende „Desillusionsroman“.

Löst die Übersetzung selber den kanonischen Anspruch ein, den der Titel beansprucht? Das kann man so oder so sehen.

Gustave Flaubert: „Lehrjahre der Männlichkeit“. Aus dem Französischen von Elisabeth Edl. Hanser, München 2020, 800 Seiten, 42 Euro

Der erste Satz des Romans versetzt die Leserin mit dem Realsymbol eines Dampfschiffs an den Vorabend der industriellen Ära. Bei Edl (die für den Hanser-Verlag auch schon Flauberts „Madame Bovary“ übersetzt hat) liest sich das so: „Am 15. September 1840, gegen sechs Uhr früh, kurz vorm Ablegen, paffte die Ville-de-Montereau dicke Wolken am Quai Saint-Bernard.“ Bei Paul Wiegler, am Anfang derjenigen „Éducation“, die ich in den siebziger Jahren zum ersten Mal (und dann immer wieder) gelesen habe: „… lag die ‚Stadt Montereau‘ fahrbereit am Quai Saint-Bernard. Dicke Rauchwolken entwälzten sich ihrem Schlot.“ Bei Maria Dessauer wiederum, 2001, liegt das Schiff, das den Helden nach Paris bringen wird, „fahrbereit am Quai Saint-Bernard und stieß dicke Rauchschwaden aus“.

Was passiert in diesen deutschen Versionen des französischen Satzes? Es ist eine Art Duell zwischen französischer Klassizität – „fumait à gros tourbillons“ lautet der Urtext – und verschiedenartigen deutschen Milieus des Stilwillens: expressionistisch bei Wiegler, naturalistisch bei Dessauer. Edls „paffen“ wiederum bringt etwas vage Gegenwärtiges, in Verbindung mit den „dicken Wolken“ auch Gemütliches, fast ein bisschen Harmloses (eine Art „Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer“-Ton) an das klassisch-kalte „fumait“ heran.

Kurz: Wie man es macht, ist es falsch. Und doch ist die „Éducation sentimentale“ hinter all diesen Schleiern, hinter all den auf verschiedene Art an sich selber scheiternden Übersetzungen zu spüren; und außerdem wollen wir als Leser, wenn wir schon kein Französisch können, jetzt endlich in das Buch hineinkommen und wissen, wie es weitergeht mit diesem seltsam uneindeutigen Fréderic Moreau und seiner Reise ins Leben.

Was alles nur heißen soll: Es gibt keine kanonische Übersetzung dieses größten Romans des großen Flaubert, ebenso wenig wie eine endgültig „richtige“ Übersetzung seines eigenartigen Titels. Was kanonisch wird, entscheidet sich sowieso erst frühestens in schätzungsweise fünfzig Jahren.

Elisabeth Edls Übersetzung ist redlich, leidlich genau, manchmal in einem übertriebenen Aktualitätswillen fragwürdig (auf Seite 202 zum Beispiel frönt sie – „dann erinnerte er augenblicklich seine große Liebe“ – dem zeitgenössischen Anglizismus, „erinnern“ transitiv zu verwenden, statt, wie es als Nachbildung des Französischen von 1869 in jedem Fall korrekt wäre, als Reflexivum mit Präposition; und so weiter).

Aus dem klassisch-kalten „fumait“ macht Edl „paffen“ – das bringt etwas vage Gegenwärtiges, auch Gemütliches heran

Es ist eine gute Übersetzung – und das heißt: eine so möglichst wenig schlechte Übersetzung wie ihre Vorgängerinnen. Ob sie sich als kanonisch durchsetzen wird? Wer kann das wissen. Es ist wie bei Denkmälern in Parks und auf öffentlichen Plätzen, deren kanonischer („eigentlicher“) Zweck, an Otto von Bismarck oder Alexander Hamilton zu erinnern, längst überwuchert ist von den Erinnerungen, Eindrücken und Assoziationen, die jedem und jeder, die an ihnen vorbeigegangen sind, beim zerstreuten Hinsehen auf jene Statuen in den Sinn kamen; sodass am Ende jede und jeder sein eigenes Denkmal hat und von kanonischer Wahrheit nicht die Rede sein kann.

Als ich den wundervoll ausgestatteten Hanser-Band weglegte und mir (zum wievielten Mal?) die zerfledderte und vergilbte johannisbeerfarbene Kladde aus der „Rowohlts Klassiker“-Reihe mit Paul Wieglers Übersetzung vornahm, war ich zu Hause in der mir gewohnten „Éducsentime“ und Elisabeth Edls Kanonizitätsanspruch vergessen.

Was weder Paul Wieglers Übersetzung besser macht als die von Elisabeth Edl noch dieser etwas am Zeug flicken kann. Wohl aber ihren Anspruch dementiert, auf Deutsch die „Éducation to end all Éducations“ geliefert zu haben.

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