■ Auf Augenhöhe: Nehmen Sie Abstand
Sauber ist es ja. Die Einbauküche mit den auf alt getrimmten, weißen Schränken glänzt Meister- Proper-mäßig. Kein Staubkörnchen verunziert die eichenschwere dunkelbraune Schrankwand. Selbst die Stereoanlage, der Videorecorder und der Radiowecker sind frisch abgewischt. Keine Frage: Dieser Mann will seine Wohnung vermieten, möglichst bald und samt der Einrichtung.
„Ein- bis Zweizimmerwohnung, möbliert, bis 700 Mark warm“, lautete die Suchanzeige. Jeder normal denkende Mensch weiß, was möbliert bedeutet: Ein Wohnungseigentümer stellt mehr oder weniger scheußliche Möbel in die Bude und vermietet das Komplettangebot. Wenn das Bett durchgelegen ist und der Vermieter human, sorgt er für Ersatz.
Berliner denken nicht normal. Sie sind sprichwörtlich gewitzt und halten wohnungssuchende Neubürger für ausgesprochen dämlich. Nur 500 Mark warm im Monat soll die 50 Quadratmeter große Schrankwand-Wohnung mit zwei Zimmern kosten. Zugegeben, fein ist SO 36 nicht gerade. Der östliche Teil von Kreuzberg, der immer noch unter seinem alten Postbezirk firmiert, ist heruntergekommen, die Einwohner sind nicht unbedingt die Crème de la crème der Hauptstadt. Aber wer will sich schon mit stinkreichen Witwen in Zehlendorf langweilen? Dann doch lieber den türkische Gemüseladen um die Ecke und den Kiosk, wo es bis 22 Uhr Schokolade gibt.
Außerdem ist die Verkehrsverbindung 1 a. Die Musical-U-Bahn- Linie 1 rattert direkt am Haus vorbei, zwei Minuten zu Fuß zur Haltestelle Kottbusser Tor. Für 500 Mark warm nimmt man auch die vierspurige Skalitzer Straße in Kauf.
Der sprichwörtlich gewitzte Vermieter hat es sich in seinem schwarzen Kunstledersessel bequem gemacht. Wird die dämliche wohnungssuchende Neubürgerin die entscheidende Frage stellen oder nicht? Sie fragt. Sie wurde vorgewarnt: Frag bei der Wohnungssuche immer nach dem Abstand!
Denn Berliner stellen nicht einfach ihr Inventar zur Verfügung. Berliner mieten eine Wohnung, möblieren sie mit deutscher Eiche und hoffen, daß ihr Nachmieter die Möbel übernimmt – gegen deutsche Mark, versteht sich. Das ist der Abstand, den der Nachmieter dem Vormieter zu zahlen hat. Die Einbauküche, die Schrankwand, Sitzgarnitur, Massivholz-Doppelbett, dazu das Bad mit den perfekt verlegten Fliesen (alles selbst gemacht!) für gerade mal 20.000 Mark. Ein Schnäppchen für die dämliche Neubürgerin.
Konnte der Mann ahnen, daß diese andernorts schon die Schrankwand mit integriertem Klappbett und weißem Porzellannilpferd auf der Ablage für 5.000 Mark abgelehnt hatte? Und davor den abgenutzten Teppichboden für 1.000 Mark?
Drei Kilometer weiter westlich. Kreuzberg 61, die gute Stube des Bezirks. Schöne Möbel: ein Vitrinenschrank, ein schwarzes Sofa, ein alter Sessel, Flohmarkt-Stühle. Der Abstand? Die Vormieterin guckt fragend. Geld für die Möbel? Nein, sie ist froh, wenn sie die Einrichtung los ist. Geld will sie dafür nicht. Sie ist Amerikanerin. Jutta Wagemann
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