■ Nebensachen aus Kiew: Tschernomyrdin for president – in der Ukraine
Das gute Abschneiden der Kommunisten bei den Parlamentswahlen in der Ukraine hatte niemanden verwundert. Um so überraschender jedoch war die Meldung, mit der die Kiewer Tageszeitung Kievskie Vedomosti Mitte der vergangenen Woche aufwartete. Unter der Überschrift „Sensation – Tschernomyrdin hat die Ukraine gewählt – das heißt, wir werden Gas haben“, teilte das Blatt den UkrainerInnen gleich auf der ersten Seite an prominenter Stelle mit, Präsident Leonid Kutschmar habe dem abgesägten russischen Regierungschef das Amt des ukrainischen Premierminister angetragen.
Ein diesbezügliches Dekret sei bereits unterschrieben. Und der Bürgermeister von Kiew habe zwei Wohnungen in bester Lage und nicht weit vom Regierungssitz zur Verfügung gestellt. Mit diesem mutigen Schritt beweise Kutschmar Weitblick, wußte die Zeitung weiter zu berichten. Denn Tschernomyrdin habe nach seinem unsanften, abrupten Abgang noch eine Rechnung mit dem russischen Staatschef offen. Allein schon deshalb werde er seine ganze Energie dafür einsetzen, die Ukraine aus dem Schlamassel herauszuholen. Der Kreml in Moskau werde dann schon sehen, was er verloren habe.
Auch etwaigen Kritiken, Tschernomyrdin sei für die Ukrainer ein Fremder, habe eine andere Mentalität und beherrsche die Sprache nicht, wußte die Zeitung zu begegnen. Schließlich hat er einst im Osten des Landes, in der Nähe der Stadt Lugansk, das Licht der kommunistischen Welt erblickt.
In der Tat: Das Angebot an Tschernomyrdin entbehrt nicht einer gewissen Logik. Immerhin hat der russische Ex-Regierungschef einschlägige Erfahrungen im Umgang mit einem störrischen roten Parlament. Außerdem ist die schwierige Situation der Rentner mit ihren mickrigen Altersruhegeldern in der ehemaligen Sowjetunion hinlänglich bekannt.
Da Tschernomyrdin, wie er kürzlich angab, auch in Amt und Würden nur mehrere tausend Dollar im Jahr verdient hat, ist sein sozialer Abstieg programmiert. Aber so jemandem, noch dazu nach mehreren Bypas- Opertaionen, ist es nun wirklich nicht zuzumuten, im Zentrum von Moskau Konserven, Obst und Rahm zu verkaufen. Zumal Tschernomyrdin auch ein abgerissener Mantel, Gummigaloschen und die großformatigen blaurotweiß gestreiften Tragetaschen nicht davor bewahren würden, von seinen Landsleuten erkannt zu werden.
Auch das Argument mit mangelnden Sprachkenntnissen zieht nicht. Schließlich weigern sich die Kommunisten bis auf den heutigen Tag, im Parlament ukrainisch zu sprechen. Was viele national gesinnte Ukrainer in der Hauptstadt Kiew auf die Palme bringt, sie aber nicht davon abhält, jeden Abend brav russische Fernsehsender zu konsumieren und auch sonst im Alltag die geliebt-gehaßte Sprache zu benutzen. Kurzum: Man versteht sich.
Gleichzeitig mit der Veröffentlichung der Sensationsmeldung machten sich die Journalisten auf, um die Meinung des Volkes zu erkunden. Das Ergebnis der Befragung war am gleichen Tag abends im Fernsehen zu bewundern, diesmal allerdings im ukrainischen Sender. „Tschernomyrdin, unser neuer Premierminister“, fragte eine alte Frau erstaunt, die die Meldung offensichtlich nicht gelesen hatte. „Warum eigentlich nicht“, sagte sie und humpelte weiter. „Der, so ein Unsinn“, ereiferte sich ein männlicher Vertreter der jungen Generation. „Auch Tschernomyrdin wird es nicht gelingen, dieses Land aus der Krise zu führen.“
Der dritte Befragte überlegte kurz, lachte dann laut und tippte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn. „Wirklich ein guter Witz“, sagte er und erinnerte alle diejenigen, denen es bisher noch nicht gedämmert hatte, an das Datum: der erste April. Barbara Oertel
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