■ Nebensachen aus Istanbul: Die Letzten sind die Ersten
Seit ich in Istanbul bin, fahre ich Fähre. Die Stadt ist ein Moloch, sie wächst in einem rasenden Tempo, nicht nur nach der Anzahl ihrer Einwohner, sondern auch in der flächenmäßigen Ausdehnung. Der in Deutschland oft beklagte Verkehrsinfarkt ist hier wirklich zu besichtigen. Bis auf wenige Stunden in der Nacht und einige glückliche Momente um die Mittagszeit herrscht in Istanbul praktisch immer Rush-hour.
Für viele Istanbuler ist es normal, einige Stunden am Tag in ihren Autos, Taxen oder überfüllten Gefährten der Istanbuler Verkehrsbetriebe zu verbringen, nur um ihrem Job nachgehen zu können. Es gibt Leute, die verlassen die Stadt, um nicht ihr halbes Leben auf dem Weg von und zur Arbeit zu vergeuden.
In diesem Horror gibt es eine Ausnahme: die Fähren. Sie verbinden nicht nur die europäische mit der asiatischen Seite Istanbuls, sie fahren auch den Bosporus herauf und herunter. Die Istanbuler Fähren sind eine Institution. Nicht die neuen, schnellen Katamarane, die den Eindruck eines Flugzeugs vermitteln, sondern die klassischen Fähren der Stadt.
Bevor in den 70er Jahren die erste Brücke über den Bosporus gebaut wurde und Europa mit Asien verband, waren die Fähren die einzige Möglichkeit, den Kontinent zu wechseln. Bei dichtem Nebel oder Sturm, wenn die Fähre am Anlieger liegenblieb, war schul- oder arbeitsfrei. Das entfällt zwar heute, denn die mittlerweile zwei Brücken haben Istanbul vom Meer ein wenig abgekoppelt. Doch die Fähren konnten sie nicht verdrängen. Wer kann, fährt mit dem Schiff.
Ob aus Bequemlichkeit oder der Erkenntnis, daß die Fähren optimal sind, hat man diese Wahrzeichen Istanbuls seit Jahrzehnten nicht verändert. Die Konstruktion der Schiffe ist gleich geblieben. Auch das hat dazu geführt, daß die Fähren hier weit mehr als ein Verkehrsmittel sind . Sie sind zum Beispiel ein Gedächtnis der Stadt. Mit derselben Fähre fuhren Leute vor 60 Jahren zur Schule, und schon damals waren die Schiffe eine Welt für sich.
Hier ist der Passagier König, in einer halben Stunde wird er rundum versorgt. Als erstes gibt es Tee, Toast oder Gebäck. Während man auf den Tee wartet, steht der Schuhputzer schon bereit. Viele Schuhputzer haben ihre festen Linien, nach einigen Wochen kennt man sich. Was in der Berliner U-Bahn der Mann mit der Aids-Geschichte ist, ist hier der Scheren-, Kaugummi- oder Zahnbürstenverkäufer. „Meine Damen und Herren...“ – und schon es geht los. In Sekunden ist die Kollektion ausgepackt, für den widerstrebenden Fremden hat er sogar Zahnbürsten aus Almanya im Angebot.
Mittlerweile erfüllt sich durch die Fähren in Istanbul auch eine biblische Prophezeiung: Die Letzten werden die Ersten sein. Kein anderes Verkehrsmittel ist so pünktlich wie sie. Während das Taxi im Stau steht, dampft die Fähre durch die Wellen. Jetzt muß es nur noch Frühling werden, dann ist die Fähre perfekt. Jürgen Gottschlich
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