: Naturtrunken ins Bett
Eine ökologische Musterreise mit Bahn und Rad ins Biosphärenreservat Elbtalauen
von GÜNTER ERMLICH
Der „Böse Ort“ bei Lenzen ist heute ganz still und friedlich. Hier am Flusskilometer 478 macht die Elbe einen Knick von 90 Grad, eine Sandbank reicht bis zur Flussmitte. Aber wehe, wenn das Hochwasser kommt! Dann zeigt der „Böse Ort“ sein wahres Gesicht, dann drückt das Wasser mit aller Macht auf die nahen Deiche, die regelmäßig zu brechen drohen. Im Sommer 2002 mussten eine Million Sandsäcke aufgetürmt werden, im Winter 2003 schwappten Eisschollen bis zur Deichkrone. Doch dieser Spuk wird bald vorbei sein. „Wir werden den Hochwasserschutzdeich auf sechs Kilometer Länge landeinwärts verlegen“, erklärt Christian Damm, Koordinator des Naturschutzgroßprojekts Lenzener Elbtalaue.
Wir stehen am alten Grenzturm, der an die ehemalige innerdeutsche Grenze mahnt und zum „Naturerlebnispunkt“ konvertierte. Brandenburg, Niedersachsen und Mecklenburg-Vorpommern grenzen hier aneinander. „Nach dem Bau der neuen Deichtrasse wird der Altdeich in zwei Jahren an mehreren Stellen geschlitzt“, erklärt Damm. In die 400 Hektar neu gewonnene Überschwemmungsfläche werden vor allem Auwälder gepflanzt, auf den Weideflächen sollen robuste Wildpferde grasen, die „Liebenthaler Wildlinge“.
Die Natur wird wieder von der Leine gelassen, die Elbe darf sich wieder ausbreiten. Auch Burg Lenzen steht ganz im Zeichen von Elbe und Naturschutz. Aus der einst mittelalterlichen Festung – ein Diorama im Parterre stellt die „Schlacht um Lenzen“ anno 929 nach – ist eine grundsanierte „Ökoburg“ mit ökologischen und naturtouristischen Projekten entstanden. Seit 1993 gehört sie dem Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND). Burgklause und Gästehaus, Filzmanufaktur und Teepavillon und ein Auenökologisches Zentrum sind dort untergebracht. Der mit einer Haube gezierte Turm beherbergt die multimediale Elbe-Ausstellung „Mensch und Strom“.
Vielleicht wird Burg Lenzen zum Dreh- und Angelpunkt des Unesco-„Biosphärenreservats Flusslandschaft Elbe“. Das Kerngebiet zieht sich entlang der Elbe von der Fliesenstadt Boizenburg und der Fachwerkstadt Hitzacker über Dömitz mit der „einzigen vollständig erhaltenen Flachlandfestung Norddeutschlands“ und dem alten Ackerbürgerstädtchen Wittenberge bis zum Storchendorf Rühstädt. Weil Naturschutz Ländersache ist, pocht jedes Bundesland auf seine Portion am Elbe-Kuchen: Es gibt das Biosphärenreservat Flusslandschaft Elbe-Brandenburg, den Naturpark Mecklenburgisches Elbetal und das Biosphärenreservat Niedersächsische Elbtalaue. Jedes Schutzgebiet hat seine Verwaltung, seine Naturwacht, sein Besucherzentrum. Sowie seine eigene touristische Vermarktung, Broschüren et cetera, die nur um den eigenen Naturnabel kreisen.
Seit dem vergangenen Jahr ist das Biosphärenreservat Flusslandschaft Elbe Partnerregion von „Fahrtziel Natur“, einer konzertierten Aktion von der Deutschen Bahn und den großen deutschen Umweltverbänden. Urlauber sollen bewegt werden, der Umwelt zuliebe mit dem Zug in die Natur zu reisen, etwa an die Elbe, um dem Naturtourismus eine Chance zu geben und die Regionalentwicklung zu fördern. „Endlich haben wir ein gemeinsames Projekt gegen die touristische Kleinstaaterei“, sagt Susanne Gerstner vom BUND, die die naturtouristischen Aktivitäten im Schutzgebiet koordiniert und vermarktet. Wichtigster Draht nach draußen, zu den Kunden, ist der Internetauftritt unter dem Dach von Fahrtziel Natur.
Mit bequemen Leihrädern radeln wir auf dem geschotterten Elberadweg, auf der Deichkrone. Katrin Heinke von der Naturwacht Brandenburg strampelt vorneweg. Die Flusslandschaft kann man am besten per Rad erkunden. Wir passieren beschauliche Dörfer mit Storchennestern und kleinen Pensionen wie Müggendorf („Ort, wo die Mücken sind“) und Cumlosen, wo Männer am Dorfteich angeln, kommen an ufernahen Weichholzauen mit Weiden und Pappeln vorbei, am Wegrand hängt noch Treibgut vom letzten Hochwasser, etwas weiter bauen Biber an ihrer Behausung. Katrin Heinke macht uns auf eine Gruppe von dreihundert Blessgänsen aufmerksam, die auf dem Grünland Nahrung suchen, Saat aus den Ackerfurchen und Erntereste von Maisstoppelfeldern – nicht eben zur Freude der Bauern. „Die werden mit einem Gänsemanagement für die Verluste entschädigt“, erklärt Heinke. Zehntausende Bless-, Saat- und Graugänse, aber auch Sing- und Zwergschwäne überwintern in den Auen.
In der Dämmerung steigen wir auf den Beobachtungsturm im Rambower Moor. „Das Niedermoor war zur DDR-Zeit stark vom Torfabbau beeinträchtigt“, erklärt Ricarda Rath von der Naturwacht. Der durch Entwässerung weitgehend verlandete Rambower See wird jetzt wieder größer, dank eines Wehrs, das den Wasserspiegel im Moor jährlich um 30 Zentimeter hebt. Es ist schon zu dunkel, durch das Fernrohr sehen wir nur schwarz. Doch dann kommen sie. Die Kraniche. Sie machen hier Rast auf ihrem Weg nach Süden. „Vom Geräuschpegel müssten das mindestens 2.000 sein“, schätzt Rath. In Schwärmen fliegen sie über das Moor und trompeten aus vollen Schnäbeln, bevor sie sich im Flachwasser zum Schlaf niederlassen.
Wir ziehen weiter, zum Alten Hof am Elbdeich in Unbesandten, wo wir uns naturtrunken betten. Am reetgedeckten Fachwerkhaus prangt das Logo der Umweltdachmarke Viabono „Reisen natürlich genießen“. Hier schließt sich der Kreis. Von der Bahn bis zum Bett: alles eins a umweltfreundlich.
Infos: Anreise mit der Bahn nach Wittenberge, nach Hitzacker oder Boizenburg. www.fahrtziel-natur.de. BUND-Besucherzentrum Burg Lenzen, Burgstr. 3, 19309 Lenzen, Fon (03 87 92) 12 21, www.burg-lenzen.de GÜNTER ERMLICH lebt in Bochum und schreibt regelmäßig für die taz