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taz FUTURZWEI

Nationalstolz – muss das ein? Fahne oder Liebe

Aron träumt, dass er sich zur Feier der Fußball-EM der Männer die deutschen Farben auf die Wangen malt. Seine Freundin ist entsetzt.

Viele finden die deutsche Fahne voll OK, aber würde Sie die tragen? Foto: Jens Schlueter/APN/dapd

taz FUTURZWEI | Ich habe geträumt wie ich mich schminke. Meine Hand fährt langsam über meine Wange. Sie hinterlässt schwarz-rot-goldene Spuren. Eine Deutschlandfahne – nur ganz klein, dafür mitten im Gesicht. Nach dem Aufwachen erzähle ich Mathilda davon beim Frühstück.

„Ich habe kein Problem damit, wenn andere das machen“, sagt Mathilda, während sie eine Laugenecke mit veganer Butter bestreicht und dabei so konzentriert mit spitzen Fingern Salz darüber streut, als würde das Brötchen andernfalls explodieren, „Ich verstehe nur den Urge nicht“.

Aron Boks und Ruth Fuentes schreiben die taz FUTURZWEI-Kolumne „Stimme meiner Generation“.

Boks, 27, wurde 1997 in Wernigerode geboren und lebt als Slam Poet und Schriftsteller in Berlin.

Fuentes, 29, wurde 1995 in Kaiserslautern geboren und war bis Januar 2023 taz Panter Volontärin.

„Aber was wäre, wenn ich Deutschlandfarben im Gesicht tragen würde?“, frage ich. Immerhin ist gerade Fußball-EM in Deutschland.

„Oh nee, bitte nicht!“

„Das war doch nur ein Traum!“, sage ich sofort entschuldigend und ärgere mich über meinen defensiven Ton, der sich an Mathildas „Das geht gar nicht“-Stimme anschmiegt.

Das bisschen Patriotismus?

Ich kann sie ja verstehen. Aber warum eigentlich, denke ich, während mir der Rest meines Traumes in die Erinnerung tritt: Es ist 2006 und WM „im eigenen Land“ wie es heißt.

Ich trage ein schwarzweißes Trikot mit einer 13 drauf, eins von Michael Ballack. Ich google Ballack, der damals Kapitän war, jetzt auch schon 47 ist und offensichtlich als EM-Experte im Fernsehen auftritt. Ich stelle mir vor, was mein früheres Idol als Kommentator meines heutigen Verhaltens hier beim Frühstück sagen würde: „Es ist völlig unverständlich, dass man so passiv und ängstlich-zögerlich in so ein Spiel geht“!

„Wieso kann ich mich denn nicht schwarz-rot-gold schminken?“, frage ich Mathilda daher nun mit etwas mehr Nachdruck.

„Kennst du den Balkon über mir?“, fragt sie. Ich nicke. Ein Mehrfamilienhaus, Grill, weißer Wäscheständer – schwarz rot goldene Fahne wie ein Handtuch zum Trocknen gehängt. Deutschland, ein Sommerstillleben.„Das gibt mir so einen seltsamen Patriotismus-Vibe“, sagt Mathilda. „Und momentan finde ich das eh ein seltsames politisches Signal.“

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„Aber es wäre doch ich, der die Fahne schwenkt“, sage ich noch mal, weil mir einfach nichts anderes einfällt.

„Wenn ich aber jemanden anderen außer dir sehe, der die Deutschlandfahne schwenkt, dann weiß ich ja nicht ob der die aus rechten oder linken Gründen schwenkt“, antwortet sie.

Während wir frühstücken, stoße ich auf eine aktuelle Umfrage der Katholischen Nachrichtenagentur (KNA) zur Aussage „Ich mag es, Deutsche Flaggen im Stadtbild zu sehen“. 28 Prozent der befragten Deutschen stimmen „voll“, ein knappes Drittel „eher“ zu. Und ein Viertel lehnt sie eher oder ganz ab.

Keine Nazi-Fahne

„Eigentlich geht die schwarz-rot-goldene Fahne vermutlich ja auf die Farben der Widerstandskämpfer gegen Napoleon zurück“, sage ich, während ich immer mehr Tabs zum Thema „Deutschlandfahne“ öffne.

Die Fahne war erst mit der Weimarer Republik wieder Nationalflagge, wurde durch die Nazis abgeschafft und nach dem Ende der NS-Diktatur als Symbol der Freiheit mit ihren schwarz-rot-goldenen Farben sogar im Grundgesetz verankert.„Aber was ist das denn jetzt für ein Deutschland, für das gerade Fahnen geschwenkt werden?“, sagt Mathilda, während sie unbeeindruckt und ohne aufzusehen aus ihrer Kaffeetasse trinkt und daran erinnert, wie dieses Land immer rechter wird.

„Kann es sein“, sage ich, weil mir nichts darauf einfällt und lasse eine männertrollige Kunstpause, „dass du dich gar nicht wirklich auf das Thema einlassen kannst?“

„Ist das dein Ernst?“, ruft Mathilda. „Wir reden hier seit einer Stunde über deinen blöden Deutschlandfahnen-Traum!“

Der Traum von 2006

Dann kommt eins zum anderen. Die Situation eskaliert, wir räumen den Frühstückstisch nicht ab und Türen knallen. Ich sitze allein vor meinem Handy, lösche den Ballack-Tab und denke noch einmal an das Gefühl von 2006. Es war meine erste WM. Ich war damals neun Jahre alt und fand alles geil: die Gemeinschaft, die vielen Spiele, das Interesse und „Die Welt zu Gast bei Freunden“ mit Deutschlandfahnen als Deko.

Später dachte ich dann nur selten daran, dass es schön ist, in Deutschland zu leben.

Vor Kurzem bin ich allerdings während einer Recherche auf eine Beschwerde eines von einem Amtsgericht verurteilten Bürgers nach einer Demo aus den 90ern gestoßen, der sich an das Bundesverfassungsgericht gewendet hat. Er hatte als Versammlungsleiter das Lied „Deutschland muss sterben“ gespielt:

„Schwarz ist der Himmel, Rot ist die Erde

Gold sind die Hände der Bonzenschweine

Doch der Bundesadler stürzt bald ab.

Diese Zeilen, mit dem vierfach wiederholten Vers im Refrain„Deutschland muss sterben, damit wir leben können“, sollen aus Sicht seines Anklägers und des Amtsgerichts den Staat und seine Symbole verunglimpft haben.

taz FUTURZWEI N°29: Kann der Westen weg?

Europa und Nordamerika haben viel vorangebracht und einiges verbockt. Nun geht es so nicht mehr weiter. Aber wie dann? Es kann schon morgen oder übermorgen vorbei sein mit dem Westen.

Über den Zerfall einer Weltordnung

U. a. mit Joschka Fischer, Dana Giesecke, Maja Göpel, Jürgen Habermas, Wolf Lotter, Jörg Metelmann, Marcus Mittermeier, Ella Müller, Luisa Neubauer und Harald Welzer. Ab 11. Juni am Kiosk

Zur neuen Ausgabe

Die Klage gegen ihn wurde auf mehreren Seiten ausführlichst zurückgewiesen und die Band „Slime”, die Urheber dieses Liedes, mit allen Mitteln der Verfassung als konstruktive Mitwirkende dieser Demokratie einbezogen. Der Song wird als „Kunst im Sinne des Grundrechtes auf Kunstfreiheit“ bezeichnet und der Text später sogar mit Heinrich Heines „Schlesischen Webern“ verglichen. Als ich das las, dachte ich mir: Wie geil ist eigentlich dieses Land, dass man es scheiße finden kann, weil es – typisch deutsch – Gesetze dafür gibt, die dir dieses Recht garantieren.

Wofür schwenkst du die Fahne?

Dafür steht doch unsere Fahne. Eine freie, liberale Demokratie in diesem Land, die sich gegen all das stellt, was Faschos wollen: ein Land für „Blutdeutsche“, frei von Abweichlern in allem was nicht hetero, nicht „deutsch genug“, nicht hörig ist.

Ideen, gegen die ich jederzeit bereit bin, zu protestieren, aber trotzdem würde ich mir doch niemals eine Deutschlandfahne über meinen Balkon hängen. Irgendwie auch inkonsequent, denke ich und daran, wie Mathilda mir erzählt hat, dass sie sich nun einmal automatisch seltsam fühlt, wenn sie Leute mit Nationalflaggen sieht. Und mir geht es dabei ja nicht anders. Es ist wie ein Wahrnehmungsreflex: wer eine Fahne hat, wirkt irgendwie verdächtig.

Wie der Typ, der vor ein paar Wochen in seinem Garten in meinem Heimatbundesland Sachsen-Anhalt eine Deutschlandfahne wehen ließ und daneben die Holzskulptur einer kleinwagengroßen Rostbratwurst im Brötchen stand. Ich fand das seltsam, habe den Mann im Garten aber nie gefragt, was er sich dabei denkt.

Und erst vor ein paar Tagen habe ich einen Typen mit Sonnenbrille und Tanktop bei einem Triathlon im Publikum stehen sehen, der drei Stunden lang unermüdlich eine Deutschlandfahne geschwenkt hat.„Wieso machst du das?“, habe ich ihn gefragt. „Um meinen Kumpel anzufeuern!“

Ich habe auf die Fahne gesehen. Das Ding war sicher drei Meter groß und in der Mitte ein Bundesadler. Ich habe den Typen nicht gefragt, was er wählt. Aber rein statistisch kann es gut sein, dass er rechts-konservativ drauf ist. Bei der Europawahl haben 17 Prozent der Wähler zwischen 16 und 24 die CDU, 16 Prozent die AfD gewählt.

„Und wieso schwenkst du für deinen Kumpel die Deutschlandfahne?“, fragte ich.

„Na, damit man mich auch gut erkennt“, sagte er verwundert.

Ich würde die Fahne nicht tragen, andererseits will ich auch nicht, dass die Rechten die jetzt einfach so bekommen. Die wollen damit keine Willkommensgrüße senden, sondern ihre sichtundurchlässigte und mit Schäferhunden bewachte Gartenbezäunung erweitern. Ich weiß nur nicht, was man dagegen machen kann – noch nicht.

Nur will ich jetzt ganz sicher nicht deswegen mit Mathilda streiten, denke ich, während ich an ihre Tür klopfe und versichere, dass ich mich heute auf keinen Fall schwarz-rot-gold schminken werde und es mir um etwas anderes geht.

„Ich liebe dich“, sage ich, als sie die Tür öffnet. „Noch viel, viel mehr als Deutschland.“

„Das will ich auch hoffen“, sagt sie und küsst mich.

„Stimme meiner Generation“ – die Gen-Z-Kolumne des Magazins taz FUTURZWEI, geschrieben von Ruth Lang Fuentes und Aron Boks, erscheint in loser Folge auf tazfuturzwei.de.