Tobias Haase im Profil

Foto: Sebastian Wells/Ostkreuz

Narben fürs Leben:„Glotzen kostet fünf Euro“

Tobias Haase wurde als Kind schwer verbrannt. Sein Gesicht trägt viele Narben. 20 Jahre später mag er sich. Die Geschichte eines Kampfes.

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27.8.2020, 15:52  Uhr

Am 21. Dezember 1999 war Tobias Haase ein Schaf. Es war der Tag vor dem Krippenspiel, im Kindergarten wurde geprobt. Die Mutter hatte dem Dreijährigen ein Kostüm gebastelt, sein kleines T-Shirt war mit Wattebällchen beklebt. Weich und weiß. Die Erzieherinnen verteilten Kerzen an die Kinder, 20 Zentimeter hoch, angezündet. Der kleine Tobias stand neben seinem Freund Justin, als beide anfingen zu brennen.

Tobias' Mutter packte zur selben Zeit in ihrer Wohnung einen Koffer, am nächsten Morgen sollte es zu den Großeltern gehen, Weihnachten, gemeinsame Familienzeit. Wenn Birgit Haase heute von diesem Tag vor 20 Jahren erzählt, schließt sie die Augen, als würde im Inneren ein Film ablaufen: Beim Packen hörte sie plötzlich ein Rattern, einen Helikopter. „Wieder eine Oma mit Herzinfarkt“, habe sie gedacht und weiter Pullover und Hosen in den Koffer gestapelt. Dann klingelte das Telefon. Die Kita ihresSohnes war dran, eine Stimme sagte: „Es ist etwas passiert, du musst schnell kommen.“

Als sie im Kindergarten ankam, fiel ihr direkt auf, wie still es war. Keine Kinder da. Eine Erzieherin kam auf sie zu, blass, starre Augen. In Birgit Haase stieg Übelkeit auf. Sie hörte, wie durch Watte, die Erzieherin sagen: Tobias. Unfall. Feuer. Krankenhaus.

Tobias Haase und seine Mutter Birgit leben damals wie heute gemeinsam im Johannesstift in Berlin Spandau. Ein großer Komplex der evangelischen Kirche, über 50 Wohnhäuser, ungefähr 2500 Bewohner, ein Altersheim, mehrere Ausbildungsbetriebe, eine Schwimmhalle, ein Kindergarten. Der 24-jährige Tobias wohnt noch bei seiner Mutter, sie verstehen sich gut, wirken wie ein eingeschworenes Team.

Ein Unfall, 16 Operationen

Birgit Haase sitzt neben ihrem Sohn, schaut ihn an. „Das war der Horror damals.“ Tobias nickt. Er kennt die Geschichte, seine Geschichte, nur aus Erzählungen seiner Mutter. Wenn er selbst die Augen schließt, kann er nur Fetzen sehen. Wie in einem Film, bei dem nur auf jedes fünfte Bild genügend Licht fällt. Woran er sich erinnert: An den schmerzhaften Weg, der mit diesem Tag für ihn begann.

Auf dem Papier klingen die Folgen des Unfalls so: 13 Prozent von Tobias Körper sind mit Verbrennungen dritten Grades übersät. Bei Kindern gilt: Schon eine Verbrennung von der Größe der Handfläche kann lebensgefährlich sein. Die Ärzte versetzten Tobias in ein künstliches Koma. Es folgten insgesamt 16 Operationen. Geblieben sind auffällige Narben in der unteren Hälfte des Gesichts, an beiden Armen und Händen. Nach zwei Monaten wurde er aus dem Krankenhaus entlassen.

Drei Mal täglich eincremen und Kompressionsmasken für die Wundheilung – das war der Rat der Ärzte. Aber wie erklärt man einem Kind, dass es drei Mal täglich eine Stunde lang still sitzen muss, damit die Mutter die Narben pflegen kann? „Disneyfilme“, sagt die Mutter und stupst ihren Sohn mit der Schulter an. „Wir haben so viele Disneyfilme in dieser Zeit geschaut, dass wir beide am Ende mitsprechen konnten, stimmt's?“ Tobias schaute, hielt still und die Mutter cremte. Tag für Tag, zwei Jahre lang. „Am liebsten mochte ich Aristocats“, sagt Tobias. So leicht wie das heute klingt, war es nicht.

Bei den Kompressionsmasken konnte Disney nicht helfen. Zwei enganliegende Strümpfe für die Arme, eine Maske fürs Gesicht – nur der Mund, die Nase und die Augen waren frei. Zwei Jahre lang musste Tobias sie jeden Tag tragen. Nur beim Essen, Duschen und Eincremen durfte er sie ausziehen. Rückblickend, so klingt Tobias, war nicht das Überleben der größte Kampf, es war das Leben mit der Verbrennung.

Anderssein war hässlich und tat weh

Zurück im Kindergarten war es schwierig. Die anderen Kinder reagierten ängstlich. Was ist mit dir passiert? Ist das ansteckend? Nur ein Kind stellte keine Fragen: Justin. Der Junge, der neben Tobias im Krippenspiel stand. Der Junge, der ebenfalls in Flammen aufging. Auch er hatte überlebt, auch er musste cremen, die Maske anziehen und sich verletzende Fragen gefallen lassen. „Wenigstens war niemand wirklich gemein, die anderen Kinder waren nur unsicher“, sagt Tobias heute.

Manchmal denkt er, es sei sogar gut gewesen, dass er damals so jung war. Er kennt sich nicht ohne Narben, ohne rosaschimmernde Linien um den Mund, an Kinn und Hals. Er kennt sich nur anders. Anders als die Anderen.

Vernarbte Hände auf einem Tisch

Wenn andere auf seine Verbrennungen starren, hilft oft nur ein ironischer Spruch Foto: Foto: Sebastian Wells/Ostkreuz

Anders zu sein, war nicht gut, aber es war auch nicht schlecht. Zumindest noch nicht. In der Grundschule änderte sich das. Tobias hatte keine Probleme, bis ihm jemand welche machte: ein Junge, der erst in der dritten Klasse zu ihnen wechselte. Er schrie Tobias „Du Toastbrot! Du Bratapfel!“ ins Gesicht und kickte ihm einen Fußball in den Bauch. Auf einmal durfte Tobias nicht mehr mitspielen, immer mehr Finger zeigten auf ihn, Klassenkameraden lachten nicht mehr mit ihm, sondern über ihn. „Ich will da nicht mehr hin, Mama“, sagte Tobias irgendwann. Es folgten Gespräche mit dem Rektor, der Lehrkraft. Keine Besserung.

„Mama, wenn ich aus dem Fenster springe, dann bin ich tot, oder? Und wenn ich tot bin, bin ich nicht mehr verbrannt, stimmt's?“ Als Tobias seiner Mutter diese Frage stellte, war er neun Jahre alt. Sein Anderssein war nicht mehr okay. Anderssein war hässlich, Anderssein tat weh. Tobias wollte, dass das aufhört. Seine Mutter stand ihm ratlos gegenüber – ein Schmerz, den sie bis heute nicht in Worte fassen kann.

Gemeinsam Anderssein macht gleich

Auf einmal sah Tobias im Spiegel nicht mehr nur sein Gesicht. Er sah das, was die anderen ihm sagten. Fiese Narben, rot schimmernd, krumpelig, auffällig. Auf der Straße spürte er jetzt die Blicke von Passanten, in der U-Bahn, im Bus. Blicke, die ihm vorher nicht aufgefallen waren. Sein Selbstbewusstsein kam ihm vor wie ausgeliehen, er konnte es nicht länger aufrechterhalten. Sein Freund Justin wechselte zu dieser Zeit die Schule. Auch er konnte nicht mehr. Tobias blieb, doch der Junge hörte nicht auf.

Trost fand Tobias bei den Treffen von „Paulinchen“, einem Verein für brandverletzte und verbrühte Kinder. Auf den Jugendfreizeiten und Workshops merkte er: Ich bin nicht allein. Gemeinsam Anderssein macht gleich.

An einem Sommertag in der sechsten Klasse geschah dann etwas, das Tobias heute als Wendepunkt bezeichnet: Er wehrte sich, zum ersten Mal. Als ihm jemand eine fiese Beleidigung ins Gesicht schleuderte, schlug er zu. „Das musste sein“, sagt er heute und nickt wie zur eigenen Bestätigung. Was ihm half, war weniger der Faustschlag, den er dem anderen Jungen versetzt hatte, mehr das Gefühl dahinter: Ich bin auch was wert. Du hast nicht recht. Ich bin nicht hässlich, ich bin nicht falsch. Es wirkt, als sei Tobias an diesem Tag über sich hinausgewachsen. Es war der Anfang eines Prozesses, an dessen Ende alles nicht mehr so wehtat.

Bevor Tobias das Wort „Norm“ kannte, wusste er, dass er nicht dazugehört. Und ein paar Jahre später, dass eine Norm nicht zwangsläufig die Wahrheit ist. Das, was andere erst in der Pubertät lernen, lernte Tobias viel früher: sich selbst zu akzeptieren und zu lieben. Was klingt wie ein Kalenderspruch, ist für ihn eine hart erkämpfte Wahrheit.

Das beste Kostüm

Gehadert hat Tobias aber in der Liebe. So wie es jeder Teenager tut. Am Anfang stellte er sich immer wieder die Frage: Was ist der Grund für meine Unsicherheit? Sind es die Narben oder bin einfach ich es? Seine erste Freundin war auch „verbrannt“, wie er es nennt. Aber die Fernbeziehung hielt nicht lange. Seit fünf Jahren ist Tobias nun in Jacky verliebt, seine Narben haben nie eine Rolle gespielt. Am Anfang hatte sie Fragen, die meisten amüsierten Tobias. Jacky studiert Biotechnologie und wenn sie mit Tobias über seine OPs sprach, spürte er ihre fachliche Faszination: Wie hat die Transplantation funktioniert? Welche Methode haben sie angewandt? „Das war witzig“, sagt Tobias, „diese Art von Fragen kannte ich noch nicht.“

Tobias’ Fachgebiet sind Pflanzen. Er ist Landschaftsgärtner, hat seine Ausbildung im Johannesstift gemacht und arbeitet heute noch dort. Arbeit und Leben im Umkreis von wenigen Metern. Man kennt sich im Stift, jeder kennt Tobias, jeder kennt die Geschichte seines Unfalls.

Nebenbei schauspielert Tobias gern. Er wird oft als Statist für Filme gebucht, seine Rollen heißen: „Verwundeter Soldat“ oder „Opfer eines Anschlags“. Am liebsten mag er seinen Job als Erschrecker im Filmpark Babelsberg. Immer zu Halloween bekommt er dort einen Auftrag als „Scareactor“. Ob ihn das nicht auch verletzt, nervt, empört? „Nein, überhaupt nicht. Ich brauche viel weniger Schminke als die anderen und habe trotzdem das beste Kostüm“, sagt er und grinst. „Wirklich, es nervt nicht“, schiebt er nach.

Es gibt ein Bild von ihm, da sitzt er neben Johannes B. Kerner. Im Anzug, mit 17, im Fernsehen. Mutig fand er sich da. Er sprach über seinen Unfall, seine Worte und sein Gesicht eine Mahnung. Besonders um Weihnachten und Silvester bekommt er immer viele Anfragen von den Medien. Immer dann, wenn Kinder mit ihren Eltern Raketen in die Luft jagen, am Weihnachtsbaum die Lichter brennen oder manche Erwachsene dem Nachwuchs 20-Zentimeter-Stabkerzen in die Hand drücken.

Aufgeben oder Frieden finden

Er sagt in jedem Interview: Vorsicht mit Feuer, Kinder nie alleine lassen. Dass die Anfragen immer um die Weihnachtszeit kommen, stört ihn nicht: „Ist ja logisch, bin ja auch an Weihnachten verbrannt.“ Es wirkt, als sei in Tobias Haases Leben kein Platz für Zynismus.

Zwei Männer sitzen auf einer Bank

Seit ihrem Unfall halten Justin (links) und Tobias zusammen Foto: Foto: Sebastian Wells/Ostkreuz

Vergangenes Weihnachten, am Jahrestag ihres Unfalls, luden Tobias und Justin zu einer Party ein, das Motto: „20 Jahre verbrannt“. Tobias und Justin sind bis heute enge Freunde, verbunden durch diesen einen Tag. Viele andere enge Freunde waren da, es gab Bier, Pong, Schnaps und eine Rede. Eine echte Party eben. „Wir haben so viel geschafft seit diesem Tag“, sagt Tobias, „das wollten wir einfach feiern.“ Wenn er heute an den neunjährigen Tobias denkt, der nicht mehr leben wollte, dann ist er vor allem eines: saufroh, dass er genug Kraft hatte, sich selbst vom Gegenteil zu überzeugen.

Eine Bar in Charlottenburg vor der Coronapandemie. Hier treffen sich Tobias und Justin regelmäßig. „Wenn du ganz unten bist, hast du nur zwei Möglichkeiten“, sagt Tobias und schaut auf seine Hände. „Aufgeben oder Frieden finden“, beendet Justin den Satz seines Freundes und prostet ihm zu. Es ist ein Montag, die Bar fast leer. Tobias und Justin sitzen im hinteren Teil, Rücken zur Wand, ein Mann vom Nebentisch schaut zu ihnen rüber. Dann weg, dann wieder hin. Ein Paar weiter links gibt sich keine Mühe, starrt einfach, die Frau saugt nebenbei ihren gelben Cocktail durch den Strohhalm.

Interessiert, irritiert, angeekelt, provozierend – das sind die Variationen der Blicke, die den beiden seit Jahren begegnen. Für zwei Jungs auf dem Weg ins Erwachsenenleben bedeutete das viel Verunsicherung und Verletzung.

Diese Verunsicherung klopft heute noch gelegentlich an. Für die beiden gibt es einen elementaren Unterschied zwischen Schauen und Starren. Wer schaut, stellt fest. Wer starrt, wertet. Dagegen helfe nur ironische Distanz. Sprüche wie „Glotzen kostet fünf Euro“. Es gibt Momente, da kommt auch das Bedauern. Auch dann hilft es, zu zweit zu sein. „Ach, ich hätte schon gerne Bartwuchs“, sagt Tobias und Justin erwidert: „Pff, wir sparen 200 Euro für Rasierklingen, jedes Jahr.“ Tobias lacht: „Hast du das etwa ausgerechnet?“ – „Klar!“

Viel Schmerz, viel Traurigkeit, viel Kampf

An einem Sonntagnachmittag läuft Tobias durch das Johannesstift. Zeigt hier hin, dann dort hin, auf einen gepflasterten Weg, eine bepflanzte Stelle – all das hat er geschaffen.

Er läuft die kleinen Gassen durch die Anlage und wird immer stiller, je näher er dem grauen Gebäudekomplex kommt. Sein ehemaliger Kindergarten. Kürzlich hat er im Garten die Bäume schneiden müssen. Das war nicht so schön. „Draußen ging es, aber sobald ich das Haus betreten habe, kribbelte mein Rücken“, sagt er. „Hier drin sind keine Erinnerungen.“ Er zeigt auf seinen Kopf. „Aber ich kann es trotzdem fühlen.“

Die Erzieherinnen sagten nach dem Unfall Sätze wie „Ist ja nicht viel passiert“, „Lasst es doch gut sein“ zu seinen und Justins Eltern. Vor Gericht wiesen sie jede Schuld von sich, sprachen von spontaner Selbstentzündung und leugneten, den Jungs brennende Kerzen gegeben zu haben. Der Prozess wurde mit einem Vergleich und einer Entschädigungszahlung beendet.

„Ist ja nicht viel passiert“, wiederholt Tobias den Satz seiner ehemaligen Erzieherin und schüttelt den Kopf. Ihm ist viel passiert, viel Schmerz, viel Traurigkeit, viel Kampf. Er will nicht, dass das kleingeredet wird. Auch wenn er sich mit seinen Verbrennungen anfreunden konnte. Nie im Leben werde die Frage verschwinden, wie es ohne die Verbrennungen wohl wäre. „Wer hätte ich sein können?“ Vielleicht ist das sein größter Kampf, diese Frage zuzulassen und sich doch selbst zu mögen.

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