Nahostkonflikt und Holocaust an Schulen: „Wenn ein Jude kommt, ist was los“
Der Israeli Shabat und der Palästinenser Ibrahim sprechen an Schulen über Nahostkonflikt und Holocaust. Ein Gespräch über Vorurteile – nicht nur bei Schülern.
taz: Herr Ibrahim, Sie sind als Palästinenser im Libanon und Berlin aufgewachsen. Hatten Sie in Ihrer Jugend Vorurteile gegenüber Juden?
Mohamed Ibrahim: Kaum. Mein Vater, der politisch sehr aktiv war und mich als Kind schon zu Demonstrationen mitnahm, war da immer sehr wachsam. Wenn mir so was mal in den Kopf kam, machte er mir klar, dass es nicht „die Juden“ waren, die unser Land geraubt haben, sondern Zionisten. In der Debatte werden diese Begriffe oft vermischt. Damit wollen wir aufräumen.
Herr Shabat, Sie sind in Israel aufgewachsen. Sind Sie mit Vorurteilen gegenüber Arabern und Muslimen groß geworden?
Shemi Shabat: Man wächst in Israel mit ganz vielen Vorurteilen auf. Das zeigt sich schon an der Sprache: Eine schlechte Klassenarbeit etwa hieß in der Schule eine „arabische Arbeit“. Das israelische Schulsystem ist stark segregiert, und die Existenz der Palästinenser wird im Unterricht einfach nicht thematisiert.
Wie kam es dazu, dass Sie beide sich in Berlin kennengelernt und gemeinsam Ihre Workshops entwickelt haben?
Shabat: Wir wurden beide von einem gemeinsamen Freund gefragt, ob wir für eine interreligiöse Nichtregierungsorganisation einen Workshop zum Thema Nahostkonflikt an Berliner Schulen anbieten wollen. Da kannten wir uns noch gar nicht.
Ibrahim: Wir haben uns dann ein paar Monate Zeit genommen, um uns kennenzulernen und ein Konzept zu entwickeln. Dabei merkten wir, dass wir nicht nur politisch auf einer Ebene sind, sondern auch den gleichen pädagogischen Ansatz verfolgen.
Und wie sieht dieser pädagogische Ansatz aus?
Ibrahim: Wir holen die Jugendlichen dort ab, wo sie stehen. Vielen geht es darum, diese Jugendlichen zu belehren. Wir hören ihnen erst einmal zu.
Es gibt ja einige Initiativen, die sich speziell der Bekämpfung von Antisemitismus an Schulen verschreiben. Wie unterscheiden Sie sich von diesen?
wurde 1970 in einem palästinensischen Flüchtlingslager im Libanon geboren. Dort und im Gazastreifen lebt noch heute der Großteil seiner Familie. Im Alter von vier Jahren kam er mit seinen Eltern und Geschwistern nach Westberlin, wo die Familie Asyl beantragt. Ibrahim wuchs in einem Asylbewerberheim auf. Erst 1990 wurde der Asylantrag bewilligt. Im Jahr 1991 bekam Ibrahim die deutsche Staatsangehörigkeit. Er studierte Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin und ist seit seinem Abschluss im padägogischen Bereich tätig. Schwerpunkt ist die Arbeit mit muslimischen Jugendlichen an Schulen.
Shabat: Indem wir antisemitisches Verhalten eben nicht zum Aufhänger für unsere Arbeit nehmen. Große Worte können die tatsächliche Arbeit mit Jugendlichen oft behindern.
Ibrahim: Da kommt es auch manchmal zu Konflikten mit unseren Auftraggebern, etwa wenn es um die Titel unserer Veranstaltung geht. Ein Auftraggeber wollte einmal eine Veranstaltung zum Thema „Umgang mit muslimischen Jugendlichen“ durchführen. Da fragten wir uns: Soll der Umgang mit Muslimen anders sein als der mit Nichtmuslimen? Auch viele gut gemeinte Initiativen nehmen Stereotypen zu oft als gegeben hin.
Wann werden Sie aktiv?
Ibrahim: Wir werden meist kontaktiert, wenn es in einer Klasse Probleme gibt. Das sind beispielsweise Fälle, in denen Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund auf keinen Fall an einem Klassenausflug ins Jüdische Museum teilnehmen wollten. Wir sollen dann das Feuer löschen. Dabei haben wir oft beobachtet, dass Lehrer das Verhalten der betroffenen Schülerinnen und Schüler von vornherein verurteilt haben. Das tun wir nicht. Wir fragen uns vielmehr: Welchen Bezug hat die einzelne Schülerin oder der einzelne Schüler selbst zum Nahostkonflikt? Damit kommen wir dem Kern des Problems näher.
Shabat: Die Palästinenserinnen und Palästinenser hier haben ganz andere Erfahrungen gemacht, als beispielsweise Flüchtlinge im Libanon. Daran knüpfen wir an. Oft wundern sich die Lehrer, was diese Jugendlichen alles über den Nahostkonflikt wissen.
Stecken in diesem Wissen nicht auch viele Vorurteile?
Ibrahim: Zum Teil. Aber wir versuchen, ihr Wissen und ihre Erfahrungen zu reflektieren und andere Sichtweisen einzubringen.
Wie reagieren die Jugendlichen auf Sie?
Shabat: Es dauert meist etwas, um das Eis zu brechen und die Skepsis der Jugendlichen zu überwinden. Aber weil wir authentisch sind, gelingt es uns relativ schnell, eine Verbindung zu den Jugendlichen herzustellen. Wenn sie uns zum ersten Mal sehen, wissen sie meist gar nicht, wer von uns der Israeli und wer der Palästinenser ist. Damit spielen wir.
Ibrahim: Wenn es nach der Nase ginge, müsste ich der Jude sein. Aber Spaß beiseite: Als wir den Klassen angekündigt wurden, hieß es oft: „Wenn ein Jude zu uns kommt, dann ist hier was los.“ Da hatte ich schon etwas Angst um Shemi. Wir sind aber schnell eines Besseren belehrt worden. Das liegt vor allem daran, wie Shemi auftritt. Die Jugendlichen hätten niemals erwartet, dass ein Israeli ihnen zuhört. Das zeigt mir, dass der Vorwurf des Antisemitismus, der so häufig gegen muslimische Jugendliche erhoben wird, oft zu kurz greift. Denn es geht hier nicht um vordergründigen Judenhass.
36, ist in einem aschkenasisch geprägten Stadtteil von Tel Aviv geboren und aufgewachsen. Als Sohn irakischer Juden gehörte er dort zur Minderheit und merkte früh, dass es auch unter der jüdisch-israelischen Bevölkerung Ausgrenzung gibt. Nach Abschluss seines Soziologie- und Pädagogikstudiums an der Universität Tel Aviv zog Shabat 2007 mit seiner Lebensgefährtin nach Berlin. Dort ist er seitdem als Trainer im Bereich Interkulturelle Bildung und Konfliktberatung tätig. Shabat möchte Jugendliche ermutigen, sich einzubringen und eigene Standpunkte zu vertreten. Neben dem Nahostworkshop bietet er u.a. auch Empowerment-Seminare an.
Sondern?
Ibrahim: Ich leugne nicht, dass es unter arabischen Jugendlichen auch handfesten Antisemitismus gibt. Ich glaube aber, dass diese Debatte in Deutschland aufgebauscht wird, um sie pauschal zu diffamieren und sich nicht mit ihren wirklichen Problemen auseinanderzusetzen. Wenn friedliche Demonstrationen gegen den Gazakrieg von ein paar Dumpfbacken durch antijüdische Parolen gestört werden, wird der ganze Protest deswegen sofort in ein falsches Licht gerückt. Da müssen sich auch die Medien fragen lassen, warum das immer wieder geschieht. Wir jedenfalls haben die Erfahrung gemacht: Wenn man diesen Jugendlichen zuhört und mit ihnen spricht, dann hören sie einem auch zu. Und das ist mit die schönste Erfahrung, die wir machen.
Shabat: Die Jugendlichen dürfen alles erzählen. Da kommen auch sensible Geschichten zu Tage. Ein Mädchen etwa hat uns beispielsweise unter Tränen geschildert, wie sie 2006 im Libanon bei ihrer Familie zu Besuch war, als Israel seinen Krieg gegen die Hisbollah führte. In einer Nacht hat die israelische Armee das Dorf ihrer Tante bombardiert. Am nächsten Morgen war dort alles zerstört.
Wie schaffen Sie es, die Jugendlichen dazu zu bringen, zwischen Judentum, Zionismus und der israelischen Regierung zu unterscheiden? Das schaffen ja sogar viele Erwachsene nicht.
Ibrahim: Indem wir sie mit eigenen Diskriminierungserfahrungen konfrontieren. Wenn sie beispielsweise Israel mit „den Juden“ gleichsetzen, erinnern wir sie an die Sarrazin-Debatte. Der hat auch ständig die Kategorien vermischt und Türken und Araber mit „dem Islam“ gleichgesetzt. Die Schüler merken dann, wie wichtig es ist zu differenzieren, weil sie ja selbst unter solchen Pauschalisierungen leiden.
Shabat: Wichtig ist uns auch, historisches Wissen zu vermitteln. Was ist Zionismus, und wie unterscheidet er sich vom Judentum? Entscheidend ist dabei, dass wir das gemeinsam machen. Wenn Mohamed den Jugendlichen über die Verfolgung der Juden im 19. Jahrhundert berichtet, dann ist das für sie glaubhafter, als wenn ich das allein machen würde.
Ibrahim: Wir fragen die Jugendlichen, was sie selbst zu jener Zeit anstelle der Juden in Europa gemacht hätten. Da gibt es die unterschiedlichsten Reaktionen, die den damaligen sehr ähneln. So wird die Idee, warum manche Juden unbedingt in einem eigenen Staat leben wollen, für viele verständlicher.
Und was machen Sie, nachdem Sie mit den Schülern die historischen Dimensionen des Konflikts erarbeitet haben?
Shabat: Dann geht es um den Perspektivenwechsel und die Perspektivenerweiterung. Wir lassen die Jugendlichen Rollenspiele durchführen, in denen sie Positionen einnehmen, die ihnen möglichst fern liegen. Ganz schnell argumentiert ein palästinensischer Jugendlicher dann plötzlich wie ein Mainstream-Israeli. Sie merken dabei, wie schwer es beispielsweise sein kann, Israel zu Kompromissen zu bewegen, oder welche Rolle die anderen arabischen Länder und die USA spielen. Am letzten Tag rekapitulieren wir das Ganze und verbinden unsere Arbeit auch mit unseren persönlichen Narrativen. Durch die Herkunft meiner Eltern aus dem Irak wird deutlich, dass die Vorstellung von Israelis als „den Juden“ zu kurz greift. Die Jugendlichen wundern sich, dass Juden auch gleichzeitig Araber sein können. Dann kommen oft auch persönliche Fragen hinzu.
Beispielsweise, warum Sie das überhaupt machen?
Ibrahim: Mein Schlüsselerlebnis waren die Anschläge vom 11. September 2001. Anfangs wurden auch Palästinenser deswegen verdächtigt. Es gab heiße Diskussionen, auch in den Medien. Ich bin dann am nächsten Tag mit einem großen Banner zur US-Botschaft gegangen. Darauf stand: Palästina trauert. Alle haben sich gefragt, was ein Palästinenser hier macht. Es gab Angriffe unter der Gürtellinie. Ich wollte deshalb jungen Palästinensern, die ähnlich stigmatisiert wurden, etwa durch Lehrer, helfen. Und viele dieser Jugendlichen wissen beispielsweise nicht, dass es auch in Israel Leute gibt, die sich mit Palästinensern solidarisieren.
Was muss auf israelischer Seite passieren, damit dieser endlose Konflikt irgendwann doch gelöst wird?
Shabat: Ich wünsche mir die Einsicht in der Gesellschaft, dass die jetzige Situation zu nichts außer sich wiederholenden Kriegen führt. Darüber hinaus müssen wir die Vertreibung und Flucht der Palästinenser im Jahr 1948, die „Nakba“, anerkennen. Das zionistische Projekt ist nicht nachhaltig, wenn es auf der Existenz anderer beruht. Es tut mir weh, als Israeli diesen heimischen Diskurs zu beobachten.
Welchen Beitrag müssten die Palästinenser leisten, um den Konflikt zu befrieden?
Ibrahim: Es muss allgemein die Bereitschaft da sein, sich auf das Denken der anderen Seite einzulassen. Wenn allerdings alle zwei Jahre Bomben fallen und Raketen fliegen, ist dies kaum möglich.
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