piwik no script img

Nachwuchsturnerin HindermannDie, der die Puste fehlt

"Ich bin ein Turnhallenkind": Marie Sophie Hindermann war auf dem Weg in die Turn-Weltklasse. Dann kamen Verletzungen und Krankheiten. In Peking will sie nun mit Risiko zurück an die Spitze

Um der Schwerkraft zu trotzen, hat Hindermann schon so manchen Preis bezahlt. Bild: dpa

STUTTGART taz Marie Sophie Hindermann sitzt mit aufrechtem Oberkörper auf dem Boden und streckt ihr linkes Bein senkrecht nach oben, so dass ihr Knie fast die Nase berührt.

Vor einigen Wochen wäre das noch nicht möglich gewesen. Im Februar erst musste die Hoffnungsträgerin der deutschen Turnerinnen ihre zweite Meniskusoperation über sich ergehen lassen. "Das hat mich in der Vorbereitung auf die Olympischen Spiele natürlich zurückgeworfen", sagt sie. Aber es war nicht der einzige Rückschlag, den es zu überstehen galt. Es folgten ein Muskelfaserriss in der Hüfte, eine Kehlkopfentzündung und das am Körper zehrende Norovirus. "Immer wenn es gerade wieder gut lief, kam das Nächste", klagt die 17-Jährige. So auch bei den Deutschen Meisterschaften im Juni, als sie eine Knieverletzung hinderte, alle drei erreichten Gerätefinals zu turnen. Ihr blieb nur der zweite Platz im Mehrkampf und der Dritte am Stufenbarren, ihrem Lieblingsgerät. "Der Wettkampf kam zu früh", sagt sie.

Schwingen, drehen, fliegen, strecken, spreizen, wieder drehen, schwingen, fliegen, Abgang. Alltag für Marie Sophie Hindermann. Die elastischen und von Kreide geweißten Balken des Stufenbarrens biegen sich unter dem Gewicht ihres muskulösen Körpers weit nach unten. Der Barren quietscht bei jeder Drehung, ächzt nach jedem Flugelement.

Sie hat den Schwierigkeitsgrad ihrer Olympia-Übung am Stufenbarren von 6,9 auf 7,4 Punkte erhöht. Das ist ungefähr so, als würde ein Hochspringer statt zwei Meter auf einmal zwei Meter dreißig hoch springen. Dadurch könnte Hindermann in Peking nach dem fünften Platz bei der WM im vergangenen Jahr sogar die Medaillenplätze angreifen. Doch die Übung sitzt noch nicht perfekt. "Mir fehlt am Ende oft noch die Puste", sagt Hindermann, "aber man braucht eine gewisse Schwierigkeit, um mitreden zu können."

Ehrgeizig sei sie, behauptet Marie Sophie Hindermann von sich selbst, Druck verspüre sie aber keinen. Dafür sorgt auch ihre Trainerin. "Druck würde es für Marie Sophie nur schwieriger machen", sagt Tamara Khukhlova. Deswegen spekuliert sie auch nicht darüber, was Marie Sophie in Peking erreichen könnte. Khukhlova trainiert Hindermann seit acht Jahren und stimmt die Schwierigkeiten jeder neuen Übung genau auf ihr Leistungsvermögen ab. "Das ist ein langwieriger Prozess", sagt sie, "weil man immer die Balance finden muss zwischen Risiko und Leistungsgrenze."

Bevor Tamara Khukhlova das Training übernahm, lernte Marie Sophie das Turnen bei ihrer Mutter Marie-Luise, die selbst Leistungsturnerin war. "Ich bin ein Turnhallenkind, bin praktisch in Turnhallen aufgewachsen und habe bestimmt die Hälfte meines Lebens darin verbracht", sagt Marie Sophie lachend. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Täglich mehr als fünf Stunden verbringt sie im Stuttgarter Turnforum. Nebenbei macht sie nächstes Jahr ihr Abitur auf einem Sportgymnasium. Freizeit hat die groß gewachsene Teenagerin kaum. Sicher gebe es zwischendurch mal Momente, in denen sie keine Lust hat, sagt sie, aber der Spaß überwiege. "Vor allem macht es mir Spaß im Wettkampf zu zeigen, was ich kann. Das treibt mich jeden Tag wieder in die Halle."

Auch bei den Olympischen Spielen will sie zeigen, was sie kann. Doch sie weiß, wie schwierig es ist, sich zu etablieren: "Dass es bei der WM einmal gut für mich gelaufen ist, heißt noch nicht, dass ich angekommen bin in der Weltspitze", sagt sie, "prinzipiell möchte ich erst mal teilnehmen, so gut wie möglich turnen und dann schauen, was dabei herauskommt." Manch einer hat Marie Sophie Hindermann schon mit der mehrfachen Weltmeisterin und Olympiasiegerin am Stufenbarren, Swetlana Chorkina, verglichen. Das mag Hindermann gar nicht, obwohl sie gerne deren Fluglinien kopieren würde. Dazu muss allerdings in Peking die Puste reichen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!