: Nachts kommen die Attachés zurück
Der Friede, der in der haitianischen Hauptstadt seit dem Abgang der Militärs und der Ankunft der US-Soldaten herrscht, ist auf dem Land nicht eingekehrt / Bedrohung durch Milizen ■ Aus Cap Haitien Ralf Leonhard
Das Armeehauptquartier von Trou-du-Nord hat bewegte Tage hinter sich. Hinter der gelben Fassade herrscht heute gähnende Leere. Die zwölf Polizisten, die hier stationiert waren, sind nach der Rückkehr des haitianischen Präsidenten Jean-Bertrand Aristide Mitte Oktober geflohen. Die wenigen Möbel wurden von der Bevölkerung, die damals den Posten in Besitz nahm, beschlagnahmt, die politischen Gefangenen aus dem engen Kotter befreit. Es ist eine kahle Zelle, deren Wände mit Parolen, Namen und Zahlen vollgeschmiert sind, von den Folteropfern mit ihrem eigenen Blut, wie erzählt wird. Die Türen des Gebäudes, von dem jahrelang soviel Schrecken ausging, stehen jetzt weit offen. Nur vor der Frauenzelle hängt ein dickes Schloß. Dort sitzen zwei Männer ein, Vater und Sohn, die beschuldigt werden, einen Mord in Auftrag gegeben haben. Sie wurden von der Sicherheitsbrigade gefaßt.
Diese Brigade, organisiert von Aristides Lavalas-Bewegung, patrouilliert nachts weitgehend unbewaffnet durch die Straßen und sorgt dafür, daß das durch die Flucht der Polizisten entstandene Ordnungsvakuum nicht von Einbrechern ausgenutzt wird. Vor allem aber versucht sie, die Bevölkerung vor den Attachés, den paramilitärischen Helfern der Armee, zu schützen. Denn der Friede, der in der Hauptstadt Port-au-Prince seit dem Abgang der Militärs herrscht, ist auf dem Lande nicht eingekehrt.
Tagsüber macht Trou-de-Nord, ein Dorf im äußersten Norden Haitis, einen beschaulichen Eindruck. Die Schulkinder in ihren grauen Hosen und grünen Hemden sitzen gelangweilt auf der Mauer des Schulhofs, ein Eisverkäufer schiebt seinen Karren durch die staubigen Straßen, vor dem „Salon de Beauté“, dem Friseurladen, schlummert ein bärtiger Alter. Doch nachts schließen sich alle in ihren Häusern ein, wenn die Attachés, die nach dem Umschwung aus dem Dorf geflohen sind, zurückkommen, bedrohlich um sich schießen und jedem, den sie antreffen, höhnisch ankündigen, die Aristide-Ära werde nicht lange dauern. „Wenn wir Aristide umgebracht haben, dann wird es euch schlecht ergehen“, drohen sie immer wieder.
Die Dorfbewohner, die jeden Weißen, der sich nach Trou-du- Nord verirrt, für einen Sicherheitsberater oder zivilen Funktionär der knapp 20.000 US-Truppen halten, sprudeln nur so heraus mit ihren Klagen. Da ist der junge Claude Alcide, der seine Ersparnisse in ein Stück Land investiert hat, auf dem er ein Haus bauen wollte. Nach dem Militärputsch vom 30. September 1991 wurde er von einem gewissen Verdieu, dem „Chef de Section“, also dem lokalen Verantwortlichen der Armee für die paramilitärischen Gruppen, von seinem Besitz vertrieben. Bis heute hat er sein Grundstück noch nicht zurückbekommen.
Die Attachés oder Tontons Macoutes, wie die Mitglieder der paramilitärischen Verbände nach den Milizen der gestürzten Duvalier-Dynastie noch immer genannt werden, treffen sich jeden Sonntag beim Pastor einer evangelischen Sekte außerhalb des Dorfes. Die benachbarten Bauern haben beobachtet, daß sie dort auch ihre Waffen versteckt haben.
Die „Eglise du Reste“, eine Zweigstelle der fundamentalistischen Kirche gleichen Namens in Brooklyn, New York, liegt eine Viertelstunde westwärts in einem Weiler namens Fouache. In einer Umgebung, wo keiner der Bauern über Trinkwasser oder Strom verfügt, hat Pastor Edouard Jacques warmes Wasser und Importseife aus New York in seinem gekachelten Badezimmer. Der Gottesmann, flankiert von zwei finster blickenden Gestalten, gibt sich überrascht: „Paramilitärs? Ich habe gehört, daß es so etwas geben soll. Aber gesehen habe ich noch nie welche.“ Richtig findet er es aber nicht, daß die bewaffneten Zivilisten von den US-Truppen entwaffnet werden sollen. Und für die US-Invasion hat er eine ganz eigene Theorie: „Das ist eine Strafe Gottes, weil hier der Voudou-Kult praktiziert wird.“
Eine Patrouille der US-Truppen, die gelegentlich ins Dorf kommt, erklärte sich für nicht zuständig, den Klagen der Dorfbewohner nachzugehen und die Räumlichkeiten des Pastors nach Waffen zu durchsuchen. Dagegen wurde wiederholt versucht, ein Kontingent der haitianischen Armee in Trou-du-Nord zu installieren – gegen die Proteste der Bevölkerung. „Jedesmal, wenn die Militärs kommen, verhängen sie eine Ausgangssperre“, berichten die Bauern, die sich vor dem Armeeposten versammelt haben.
Für Sicherheit sorgen die Militärs jedenfalls nicht, denn während des Ausgehverbots wurden drei Läden geplündert und mehrere Ziegen gestohlen. Außerdem hat keiner vergessen, wie zwei Monate nach dem Putsch vom 30. September 1991 der Soldat André Bienaime den jungen Lucien Jeffroy erschoß. Ein Jahr später wurde ein Mann, der als „Pape“ bekannt ist, von einem anderen Soldaten zum Krüppel geschossen.
Der Norden Haitis war immer schon eine Hochburg der Macoutes, die von den reichen Familien, die dort den Landbesitz monopolisieren, bezahlt werden. Riesige Viehweiden, wie sie Trou-du- Nord von der nördlichen Metropole Cap Haitien trennen, lassen für Kleinbauern wenig Raum. Das in manchen Gegenden reichlich vorhandene Staatsland wird traditionell von großen Familien von der Regierung gepachtet und dann zu weit höheren Preisen an die Kleinbauern unterverpachtet. In der Vergangenheit wurde jeder Versuch, dieses System in Frage zu stellen, mit Gewalt beantwortet.
Am brutalsten in der Gemeinde Jean Rabel im Nordwesten, wo vor sieben Jahren der Prieser Jean- Marie Vincente seine Schützlinge ermuntert hatte, in direkte Pachtverhandlungen mit der Regierung einzutreten. Auf einer Versammlung am 23. Juli 1987 wurden die Bauern von Macoutes provoziert und dann mit Macheten niedergemetzelt. Mindestens 143 starben bei dem Massaker. Vincente selbst mußte ins Ausland fliehen und kam erst vor wenigen Monaten zurück. Sechs Wochen vor der Rückkehr Aristides wurde er das letzte prominente Opfer des Putschregimes. Während eines eigens für die Zeit des Mordes organisierten Stromausfalls wurde er vor seiner Haustür erschossen.
Die von François Duvalier (1957-1971) geschaffenen Tontons Macoutes, später in „Volontiers de Securité Nationale“ (Freiwillige der Nationalen Sicherheit) umbenannt, verkörperten seit jeher ein System, das auf Korruption und Willkür beruhte. Denn die „Chefs de Section“, Angehörige der Armee, die die Milizen in den Dörfern kommandierten, bekamen kein Gehalt, wurden aber dafür mit allen Vollmachten ausgestattet, die Bevölkerung auszupressen. Am gängigsten war die willkürliche Verhaftung. Wollte einer wieder freikommen, mußte er zahlen. Offiziell wurden die Verbände nach dem Sturz des Diktatorensohns Jean-Claude Duvalier im Februar 1986 aufgelöst. Doch die tatsächlichen Machtverhältnisse auf dem Land blieben erhalten. Unter dem Putschregime wurden die alten „Chefs de Section“ wieder eingesetzt. Die Attachés, die zivilen Gehilfen, Spitzel und Handlanger der Armee, die nach dem Putsch gegen Aristide überall ernannt wurden, sind fast durch die Bank ehemalige Macoutes. Die „Front für den Fortschritt und das Weiterkommen Haitis“ (FRAPH) ist nicht anderes als eine politische Organisation dieser paramilitärischen Verbände. Sie wurde, wie US-Quellen versichern, unter der Federführung des Geheimdienstes CIA gegründet und soll ein Gegengewicht zur Lavalas-Bewegung Aristides bilden.
Das erklärt, warum die US- Truppen dem Ruf nach der Entwaffnung der Attachés nicht nachkommen. „Die FRAPH ist eine legale politische Partei, wir haben keinen Anlaß, gegen sie vorzugehen“, erklärte ein Offizier der US- Spezialtruppen. Die Ereignisse von Bocozelle, die vom kirchlichen Menschenrechtsbüro „Justice et Paix“ dokumentiert wurden, passen da durchaus ins Bild. In dieser Ortschaft bei St. Marc, rund 100 Kilometer nördlich von Port-au- Prince, ließen sich etwa 35 GIs am 29. November vom prominenten Großgrundbesitzer Edouard Vieux mit Kokosmilch bewirten. Vieux befand sich in Begleitung seines Aufsehers Jean-Robert Elisée, der bis vor kurzem als lokaler Chef der FRAPH für den Terror gegen die Kleinbauern der Zone verantwortlich war. Als zwei Bauern die Soldaten darauf aufmerksam machen wollten, in wessen Gesellschaft sie sich befanden und verlangten, sie sollten einer Anzahl konkreter Klagen gegen den Aufseher nachgehen, drehte der ehemalige FRAPH-Chef den Spieß um und befahl den Soldaten, die Bauern festzunehmen. Erst nach der Intervention der internationalen Polizeibeobachter und einer Demarche des Justizministeriums kamen die beiden zwei Tage später frei.
In Saut d'Eau auf dem Zentralplateau Haitis gelang es der Dorfbevölkerung, die Attachés zu entwaffnen. Eine wenig später eintreffende Delegation einer katholischen Friedenskommission wurde in große Verlegenheit gebracht, als sie die Waffen ausgehändigt bekam. Sie überließ das Arsenal dem nächstgelegenen Kommando der US-Truppen, das es schnurstracks der haitianischen Armee übergab. Daß es von dort kein weiter Weg zurück zu den Attachés ist, kann sich jeder vorstellen, der die Strukturen der haitianischen Repressionskräfte kennt.
Die Armee tritt derzeit wenig in Erscheinung. Sie hat sich auf wenige Kasernen zurückgezogen und verharrt in einer defensiven Warteposition. Hunderte, vielleicht sogar über tausend Soldaten sind nach der Rückkehr Aristides desertiert; die meisten hohen Offiziere mit krimineller Vergangenheit wurden in den Ruhestand befördert. Eine Generation von Offizieren mit relativ weißer Weste, viele erst vor wenigen Wochen befördert, garantiert vorerst für Loyalität gegenüber dem wieder eingesetzten Präsidenten. Starke Gesten würden zynisch oder lächerlich wirken. Alle Welt weiß, wie diese Armee das Land ausgeplündert hat. Massengräber und zahlreiche Überlebende von willkürlichen Verhaftungen und Folter sind Zeugen des Terrors, mit dem Aristides Gefolgsleute drei Jahre lang verfolgt wurden.
Als das Zentralgefängnis von Cap Haitien, die größte Haftanstalt der Nordregion, nach der Rückkehr Aristides gestürmt wurde, waren keine Soldaten mehr dort. Sie hatten sich vor der dechoukage – der Entwurzelung, wie es auf créole heißt – rechtzeitig in Sicherheit gebracht. Die Einnahme des französischen Kolonialbaus war der Auftakt für eine neue Zeit. Bei der Befreiung von über 150 politischen Gefangenen wurden die Türen der Kerkerzellen herausgerissen und die Eisenstangen aus den Fenstern gebrochen. Nie wieder soll das Gebäude Schauplatz von Terror und Unterdrückung sein. Ein ehemaliger Insasse hockt sich mit dem Gesicht zur Wand in ein kaminförmiges Verließ, um zu demonstrieren, wie die Gefangenen füsiliert wurden, und vertreibt damit gleichzeitig die bösen Geister, die sich im feuchten Gemäuer noch herumtreiben können. Im Hof befindet sich ein noch ungeöffnetes Massengrab.
In Cap Haitien sind die GIs noch populär, weil sie ein paar Soldaten, die in eine Demonstration gefeuert hatten, erschossen haben. Doch in den Dörfern, wo die Besatzungstruppen ihrer Befreierrolle nicht gerecht werden, in den Städten, wo sie notorische Unterdrücker auf freien Fuß setzen, da verlieren sie bereits ihren Glorienschein, mit dem sie sich bei der Landung im September umgaben.
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