Nachtleben in Berlin: Liebeskummer im „Ficken3000“
Unser Autor war vor dem Lockdown regelmäßiger Besucher in Berlins bekannter Schwulenbar. Eine Rückkehr nun lenkt ihn ab von zu viel Grübelei.
Auf dem Tisch liegen Kondome verstreut wie Konfetti, sonst ist alles wie immer. Es ist Freitag, der 16. Juli und Berlins Schwulenbars haben endlich wieder geöffnet. Die legendärste unter ihnen, das Ficken3000, zwischen Kreuzberg und Neukölln, feiert das mit einer Party. Ich bin einer der ersten Gäste.
„Aron!“, Frank, der Besitzer kommt auf mich zu. „Wir haben schon die ganze Zeit gerätselt – so ’n hübscher Mann, der ist nichts für die Frauenwelt.“ Das ist der erste Satz, nach über neun Monaten Funkstille. So oder so ähnlich hat er mich schon immer begrüßt. Ich aber erzähle ihm heute von Karina.
Seit Tagen schrecke ich jeden Morgen um sechs Uhr hoch, mit diesem Speed-Gefühl in der Brust, das immer ein wenig auf der Grenze zwischen Freude und Herzinfarkt balanciert. Dieser Liebeskummer hält mich wach, und so habe ich viel zu viel Zeit zum Grübeln. Dass das Ficken3000 heute endlich wieder seine Türen öffnet, ist die perfekte Gelegenheit, dem entgegenzuwirken.
Aber Frank hört mir nicht zu. Er muss ein paar Personen, die „leider keinen Akku haben“, um ihr Corona-Testergebnis zu zeigen, abweisen. Ich sehe mich um. Die ersten Gäste drängen durch die Tür. Die Bildschirme an den Wänden zeigen zu 80er-Jahre-Hits Schwulenpornos in Schwarz-Weiß. Sie gehören zum Grundinventar des Ladens, wie das riesige Ficken3000-Logo hinter der Bar. Heute ist es mit Girlanden überhängt.
Wer hier reinkommt, soll sich sicher und anonym fühlen. Deswegen gilt im Ficken3000: Namen sind Schall und Rauch. Ausgenommen ist nur das Personal. Und Stefan und Marius, Stammgäste, die hin und wieder aushelfen. Während des Lockdowns seien sie immer wieder auf der Straße angesprochen worden, sagen die beiden. Ungeduldige Gäste hätten gefragt, wann der Laden endlich wieder aufmacht.
Die Freude, dass sie diese Frage nicht mehr mit unwissenden Sätzen beantworten müssen, steht ihnen ins Gesicht geschrieben. Stefan und Marius blicken sich vergnügt um. Der Raum füllt sich immer schneller.
Dean, der heute hinter der Bar steht, serviert die Drinks überschwänglich. Die Flensburger-Flaschen öffnet er mit einem lauten „Plopp“, bevor er sie mit einem lauten „Bitte schön!“ über den Tresen reicht. Früher war Dean mal Physiotherapeut.
Nicht jeder Liebeskummer ist gleich
Das Ficken3000 sei vor gut 20 Jahren eine Art Heimat für ihn geworden, erst hier erfuhr er die nötige Unterstützung, um sich zu outen. Darum habe er vor 19 Jahren angefangen, hier zu arbeiten. Heute ist er Barkeeper und routinierter Zuhörer. Als ich ihm mein Liebesleid klage, fällt seine Reaktion aber eher knapp aus. „Du bist ’ne Hete?“, fragt er gespielt entrüstet. Ach ja, ich bin nicht schwul. Glaube ich. Aber ich gehe auch nicht ins Ficken3000, um mich mit dieser Frage zu beschäftigen. Stefan und Marius prosten mir zu.
Laut Stefan gebe es bei Liebesproblemen kaum Unterschiede zwischen Schwulen und nicht Schwulen. Nur irgendwann, als ich schon gut dreißig Minuten von Karina erzähle und nicht den Eindruck mache, damit aufzuhören, sagt er: „Okay, klingt jetzt doch langsam nach ’nem Hetenproblem.“
Gedankenstopp, endlich. Dean klatscht in die Hände. „Jetzt wird’s richtig bumsvoll“, raunt er. Es stimmt. Abgesehen von „Schön, dich wiederzusehen“ fällt am Tresen kein Satz so häufig wie „Endlich geht’s wieder los“. Gemeint ist der Darkroom. Historisch gesehen war der Darkroom für die Schwulenbewegung ähnlich wichtig wie Sexkinos, Cruising Areas und Saunen. Wer will, kann hier schnellen und unverbindlichen Sex haben. Nicht erst mit der Pandemie hat sich schwules Dating ins Digitale verschoben. Apps wie Grindr, die es seit 2009 gibt, bieten unkomplizierte Sexdates, ohne vorher auf die Suche gehen zu müssen.
Aber sind die in der Lage, den Darkroom abzulösen? „Auf keinen Fall“, sagen Stefan und Marius, nichts könne den Darkroom ersetzen. Dass ich während meiner Besuche noch nie dort runterging war noch nie für irgendjemanden ein Problem. Auch nicht, dass ich nicht schwul bin. Etwas, das nicht selbstverständlich ist für eine Schwulenbar.
Im Ficken3000 herrscht seit seiner Gründung 1998 ein Selbstverständnis, das Dean so zusammenfasst: „Heten können kommen, Frauen können kommen. Scheißegal, Hauptsache sie kommen.“ Damit sei das Ficken3000 an den Start gegangen und war damit seinerzeit „die Number One.“
Irgendwann ist da tatsächlich „die erste Frau des Abends“. Und ich wünschte, ich hätte diesen Satz niemals gesagt. „Ich bin keine Frau! Ich definiere mich als Mann“, sagt die von mir falsch gelesene Person.
„Entschuldigung. Das tut mir wahnsinnig leid.“ Schweigen. „Und wie heißt du und worauf freust du dich heute?“, frage ich verunsichert. „Alter … ich bin hier für das Anonyme, okay?“ Seine Begleitung gibt mir den Tipp, das nächste Mal erst nach dem bevorzugten Pronomen zu fragen, bevor ich jemanden einordne. Ich verstehe und will weiter ins Gespräch kommen. Aber die Begleitung macht mir klar, dass das eine ziemlich dumme Idee ist. Ich müsse das jetzt aushalten.
Ich muss wieder an Karina denken – und ganz schnell etwas trinken. Düstere Gedanken sind im Ficken3000 nicht gern gesehen. Schweben sie in der Atmosphäre, werden sie von den schrill-bunten Lichtreflexionen gepackt, in den Mittelpunkt des Raumes gezerrt und zum Tanzen aufgefordert.
Je weiter sie den Winkel ihrer angelegten Arme zuspitzen, desto mehr wirkt es, als würden sie so zu Gloria Gaynors „I will survive“ nicht nur tanzen, sondern eine regelrechte transzendente Verbindung herstellen können. Sie schließen ihre Augen, manch einer wirft seinen Kopf in den Nacken, hin und wieder ertönt ein baritonales „Wohoo“ über dem Discosound; und allmählich kämpft sich ein Lächeln in mein Gesicht.
Kurz darauf tippt mir ein Typ auf die Schulter. „Kannst du dir nicht vorstellen, dass das ’n bisschen komisch ist, wenn hier ’ne Hete sitzt und uns Fragen stellt?“, fragt er mit ernstem Blick. Erneutes Entschuldigen. Es hat keinen Zweck. Der Typ dreht mir den Rücken zu. Vielleicht sollte ich einfach gehen. Aber Frank schüttelt streng den Kopf.
Bin ich als Hete ein Störfaktor?
„Wir kennen den. Und so wie der Typ eben denkt hier niemand“, sagt Marius. Stefan klopft mir auf die Schulter: „Aron, du bist hier gern gesehen, nur der Typ ist nicht ganz dicht.“ Frank formuliert es noch pragmatischer: „Der will dich einfach ficken.“
Ist es aber nicht wirklich daneben, mit meinen „Hetenproblemen“ in eine Schwulenbar zu gehen, um der Realität zu entfliehen und dort tapsig die Community zu belästigen? Wie oft wurde der Mann, den ich gerade misgendert habe, schon von irgendwelchen Prolls als Frau angesprochen? Bin ich hier nicht ein Störfaktor an diesem Sehnsuchtsort, der viel zu lange geschlossen war?
Stefan und Marius geben mir durch Augenrollen und eine Runde Getränke zu verstehen, dass ich jetzt endlich aufhören soll zu grübeln. Wir gehen in die Lounge im Darkroom, um uns weiter zu unterhalten. Hier klingt die Musik weniger blechern.
Was im Darkroom passiert, bleibt im Darkroom: „Das ist der springende Punkt“, sagt die männliche Begleitung von vorhin. Ich könne mir gar nicht vorstellen, wie großartig es sei, dass Orte wie dieser existieren. Orte der Freiheit und der Sicherheit, ohne Namen und ohne große Erklärungen. Das ließe sich nur durch Erfahrung nachvollziehen, nicht durch Fragen. Ich nicke. Als ich ihn frage, ob wir uns küssen, fragt er mich, wie er mich nennen dürfe. Wir einigen uns auf „Ronny“ in der amerikanischen Aussprache. Der Kuss ist gut.
Am nächsten Tag weckt mich wie gewohnt ein Adrenalinschub. Ich denke an Karina, aber auch an das Parfum des Typen von gestern, das noch immer an meiner Kleidung haftet. Ich beschließe, auch diesen Abend im Ficken3000 zu verbringen. Als ich mich durch die Menge dränge, ist die Tanzfläche schon gut gefüllt. Verständlich: Es läuft Britney Spears. Es herrscht weniger Aufregung als gestern, sonst hat sich die Stimmung kaum verändert. Aber wo ist die männliche Begleitung von gestern?
„Der Idiot, der meinte, du würdest hier stören?“, fragt Frank. „Als du gestern gegangen bist, haben wir dem klargemacht, dass er in meinem Laden die Schnauze zu halten hat.“ – „Nein, den meine ich nicht, sondern … äh … den anderen.“ Ich kann mich kaum noch an sein Äußeres erinnern, außerdem wird mir klar, dass ich nicht nach seinem Namen, nicht einmal nach einem Pseudonym gefragt habe.
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