■ Nachschlag: Im Literarischen Colloquium trafen sich Ehemalige der Gruppe 47
Einen „elektrischen Stuhl“ gab es an diesem Montag nicht, und den gesenkten Daumen mußten die Autoren auch nicht fürchten. Schließlich tagte im überfüllten Literarischen Colloquium am Wannsee nicht die Gruppe 47, sondern Peter Bichsel, Günter Grass und Walter Höllerer erinnerten sich ihrer. 30 Jahre nach dem Ableben der literarischen Institution der Bundesrepublik waren die schon etwas gesetzten Herren heiter gestimmt, und die dem jährlichen Autorentreffen eigene Mischung aus rüder Kritik und Gemeinschaftsgeist bot Anlaß zu allerlei Anekdoten.
Er habe Waschkörbe voll Bocksbeuteln herausschleppen müssen, erinnerte sich Walter Höllerer auf die Frage des Moderators und Literaturkritikers Helmut Böttiger, wie es denn beim ersten Mal gewesen sei; das habe er sich auch ein wenig anders vorgestellt. So ging es wohl jedem jungen Autor, der eine Einladung erhalten hatte. Eher ängstlich traten die Eleven die Reise in die mobile und „ersatzweise literarische Hauptstadt“ (Grass) an. Mag sein, daß sie sich ein wenig entspannten, wenn sie sich, wie Höllerer, beim Pinkeln in dunkler Nacht neben Peter Huchel wiederfanden. Bichsel jedoch, dem vergleichbares Glück Jahre später offenbar nicht vergönnt war, schlief die drei Nächte vor seiner Lesung nicht und somnambulierte noch während der Kritik an seinem Text.
Von Übel war das nicht. Verteidigen durfte er sich ohnehin nicht, und nur wer die Kritik ungerührt überstand, den lud Hans Werner Richter wieder zur „Schriftsteller-Kirchweih“ (Bichsel) ein. Mit der wachsenden Entfernung vom Krieg wurde die anfängliche Daumenbewegung recht elaboriert, kamen professionelle Kritiker hinzu.
Anfangs sollte das Werkstattgespräch in der Gruppe 47 die fehlende literarische Öffentlichkeit ersetzen. Als sie sich dann als mediale Öffentlichkeit mit Berufskritikern herausbildete, wurde die Gruppe 47 zur zentralen Literaturbörse. Grass betrachtete diese Entwicklung etwas persönlicher: Das „Sekundäre, das sich in Szene zu setzen weiß“ habe das Gleichgewicht zwischen Autoren und Kritikern verdrängt. Gemeint war Marcel Reich-Ranicki, und Böttiger, gut informiert und diskret, ergänzte später, daß Richter dieses „blinde Huhn, das immerfort gackert“, gern ausgeladen hätte.
Richters Unverständnis gegenüber experimentellen Schreibweisen ließ Bichsel stets einen „Hauch von Hemingway“ spüren, doch Grass wies zu Recht auf die Breite der integrierten Literaturströmungen hin. Nur so hat die Gruppe 47 wohl 20 Jahre überstehen können. Dann aber vermochte sich Richter mit seiner Forderung, die Treffen frei von Politik zu halten, nicht mehr zu behaupten. Der laut Höllerer „nicht autoritäre, sondern Ich-bewußte“ Spiritus rector unterband 1967 die Diskussion über die vor dem Haus protestierenden Studenten, und immer mehr Autoren verließen den Raum. Als Bichsel erzählte, wie Reinhard Lettau den Revolutionären unter dem Transparent „Lieber rot als Höllerer“ zeigte, wie man richtig skandiert, da fehlte der verstorbene Lettau schmerzhaft deutlich auf dem Podium. Jörg Plath
Weitere Diskussionsveranstaltungen zur Gruppe 47 am 7., 11., 18. und 25.3., Informationen unter Telefon: 816 99 60
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen