■ Nachschlag: Christoph Hein las aus seinem neuen Roman "Von allem Anfang an"
Nachschlag
Christoph Hein las aus seinem neuen Roman „Von allem Anfang an“
Nein, zum Politbüroprozeß wollte Christoph Hein sich nicht äußern. „Das hat doch nichts mit meinem Buch zu tun.“ Aber dann antwortete er doch auf die pflichtschuldige Frage des Moderators Hajo Steinert – mit einer Art Gleichnis. Er erzählte von einem Schrebergärtner, dessen Grundstück einst direkt an der Berliner Mauer lag. Tagsüber heizte die Mauer sich auf und gab nachts Wärme ab – mit dem Ergebnis, daß dort die schönsten und größten Kürbisse wuchsen. Darauf war er stolz, und das hat ihm die Wende kaputtgemacht. So ungerecht ist die Welt.
Ähnlich listig ist auch Heins neuer Roman „Von allem Anfang an“. Er erzählt die Geschichte eines Kindes, das 1956 zwölf Jahre alt ist und dessen Biographie viele Ähnlichkeiten mit der des Autors aufweist: Sohn einer kinderreichen Pfarrersfamilie, aus Schlesien geflüchtet, in der DDR-Provinz aufgewachsen, später Besuch des Gymnasiums in West-Berlin. Dennoch bezeichnet Hein seinen Roman allenfalls als „fiktive Autobiographie“. Wie jeder literarische Text enthalte auch dieser vieles von der eigenen Person, schließlich sei Schreiben generell ein Akt der Selbstentblößung: „Man hält das Herz in der Hand, das macht es der Kritik so einfach zuzustechen“. Aber Autobiographie? Nein: Jede Erinnerung ist Konstruktion.
Die Gesprächspartner an diesem Abend im völlig überfüllten LCB, der Publizist Lothar Baier und der Bildhauer Werner Stötzer, waren vom Text beeindruckt. Während Stötzer einfach nur die „wunderbare Prosa“ rühmte, lobte Baier die Schilderung der „allmählichen Desintegration der kleinbürgerlichen Schichten“, die ganz ähnlich auch im Westen Deutschlands spielen könnte. Auf den ersten Blick wirkt Heins betont unambitioniertes Erzählen fast ein bißchen altväterlich. Da kommen ganz im Ernst Worte wie „Hinterbacken“ und „Schlüpfer“ vor, jede formale Extravaganz wird demonstrativ verweigert, statt dessen Beschränkung auf die klassischen Tugenden: Langsamkeit, Präzision, Dialogkunst. Vielleicht drückt sich darin östliches Mißtrauen gegen westliches Styling aus. Steinerts Frage, ob er der DDR ihre Geschichte und Identität wiedergeben wolle, indem er ihre Anfänge und Hoffnungen auf Glück beschreibe, beschied Hein allerdings abschlägig: „Ich glaube nicht, daß man das mit Literatur kann und daß das sinnvoll wäre. Ich kann nur von meiner kleinen Welt erzählen; das ist viel weniger als die DDR.“ Jörg Magenau
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