■ Nachruf: Cornelis Castoriades, lebenslanger Nonkonformist
Wenn es einen Philosophen gab, der aus dem Scheitern des europäischen Realsozialismus Energie und Zuversicht für ein künftiges revolutionäres Projekt geschöpft hat, dann ihn. Cornelis Castoriades mußte nicht wehklagen über den Zusammenbruch des Palastes der Träume, denn er hat ihn nie bewohnt. Als 20jähriger verließ er 1942 die Kommunistische Partei Griechenlands, 1948 kehrte er im Pariser Exil den Trotzkisten den Rücken, angewidert von deren Anbiederei ans Tito-Regime.
Zusammen mit seinem Freund Claude Lefort gründete er ein Jahr später die Zeitschrift Socialisme ou Barbarie, scharfes Instrument der Kritik an den Machtoligarchien der westlichen und den totalitären bürokratischen Regimen der östlichen Hemisphäre. Ein einsames Unternehmen gegen den Zeitgeist, vor allem den der damaligen linken französischen Intelligenz.
Castoriades führte seine auf die Sowjetunion zentrierte Kritik des bürokratischen Totalitarismus weiter zur These von der Herrschaft einer neuen Klasse, der Stratokratie. In ihr sah er einen gefährlichen Brandsatz, zusammengemixt aus Militärs und Vertretern des hochtechnisierten Rüstungssektors. Entweder, so Castoriades in seiner Arbeit Avant la guerre, würden die Stratokraten fallen, oder der dritte Weltkrieg ist unvermeidlich. Glücklicherweise traf der erste Teil der Alternative ein.
In der enzyklopädischen, bei aller Verschlungenheit doch strengen Gedankenwelt des griechischen Philosophen verbanden sich Psychoanalyse, Antropologie, politische Theorie und Gesellschaftskritik. Ihm war es darum zu tun, die Individuen zu kollektivem autonomem Handeln zu befähigen, darum, daß sie, von ihrer Einbildungskraft beflügelt, ein neues „gesellschaftliches Imaginäres“ instituieren. In dieser Befähigung zur Autonomie sah er die eigentliche Existenzberechtigung der Psychoanalyse.
An Stelle der Institutionalisierung kraft Herrschaft der Ökonomie sollte die Selbstinstitutionalisierung der Gesellschaft treten, sollte die Fremdbestimmung der Individuen beseitigt werden. In L'institution imaginaire de la societé hat er dieser Idee die theoretische Grundlage eingezogen.
Castoriades war und blieb Anhänger der dezentralisierten, unmittelbaren Produzentendemokratie, ein Projekt, das er bis zu den Wurzeln der attischen Polis zurückverfolgte. Die These einer notwendigen Verbindung von Kapitalismus und Volksherrschaft hat er stets zurückgewiesen.
Denn die Logik des Kapitalismus erschöpft sich in den Phantasma einer stets voranschreitenden, schrankenlosen Entwicklung der Produktivkräfte. Für ihn waren historische Prozesse nicht determiniert, auch nicht durch die gegenwärtige Gestalt der „Weltgesellschaft“. Sie blieben offen gegenüber der selbstbewußten Willensanstrengung. Seinem Selbstverständnis nach war Castoriades kein Utopist. Aber auch kein Anhänger des „Alles oder Nichts“. Denn die Geschichte verläuft diachronisch, es kommt nur darauf an, die in ihr angelegten Elemente in die Welt zu setzen. Mit einem Wort: „Geschichte ist machbar, Herr Nachbar!“ Christian Semler
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