Nachruf auf den Satiriker F.W. Bernstein: Der Tag des lustigen Gerichts
Wie der Dichter, Zeichner und Lehrer F.W. Bernstein mich, meine Generation sowie Lyrik und Zeichenkunst prägte. Zum Tod von Fritz Weigle.
In der Nacht zu Freitag verstarb im Alter von achtzig Jahren ein Klassiker der deutschen Hochkomik: Fritz Weigle alias F.W. Bernstein. Sein bekanntestes Gedicht ist der Zweizeiler „Die schärfsten Kritiker der Elche / waren früher selber welche“. Wie sehr F.W. Bernstein über sein Werk hinaus durch seine Persönlichkeit wirkte, dokumentiert der folgende Text.
Es gibt Tage, an denen sich Biografien jäh verändern. Und es gibt Tage, an denen der Stein nicht einmal bemerkt, dass er plötzlich zu rollen beginnt. Ein solch denkwürdiges Datum in meinem Leben war der 15. Dezember 1992. Ich lernte F.W. Bernstein kennen.
Vor das Berliner Kammergericht am Amtsgerichtsplatz in Charlottenburg war Eckhard Henscheid geladen. Der Satiriker, Romancier und Mitbegründer der „Neuen Frankfurter Schule“ hatte sich in der Zeitschrift Der Rabe Heinrich Böll und sein Werk vorgenommen und den Nobelpreisträger als „steindumm“ und „korrupt“ bezeichnet. Der Böll-Sohn René sah darin das Andenken seines Vaters beschädigt und hatte Henscheid verklagt.
Drei Monate zuvor hatte ich Henscheid in seiner Heimatstadt Amberg besucht, um einige Schauplätze seiner Erzählungen zu besichtigen und über zwei Tage ein langes Interview mit ihm zu führen. Ich hatte bereits eine Bibliografie zu seinem Werk veröffentlicht und wollte weiter wissenschaftlich daran arbeiten. Eigentlich war ich jedoch sehr unsicher, was meine Zukunft betraf, mein Studium war längst abgeschlossen. Wollte ich wirklich promovieren? Zusammen wanderten wir zur Kapelle Maria Schnee, und Henscheid spottete über uns als Nachfolger von Augstein und Heidegger.
An dem Dienstagmorgen im Dezember 1992 kam Henscheid nicht nur in Begleitung seiner Anwältin Gabriele Rittig, die in Simone Borowiaks gerade erschienenem Bestseller „Frau Rettich, die Czerni und ich“ die Vorlage für eine der Hauptfiguren geliefert hatte, der streitlustige Autor hatte auch eine breite Phalanx von Unterstützern an seiner Seite – darunter, wie er nun vorstellte, sein „persönlicher Gerichtszeichner“: F.W. Bernstein.
Zwei meiner literarischen Heroen
Vor mir standen zwei meiner literarischen Heroen. Henscheid, der Meister der Erzählkomik, und Bernstein, der Doppelmeister der komischen Dicht- und Zeichenkunst sowie Erfinder des berühmten Elch-Zitats. Das war wie Goethe und Schiller! Da konnte einen beinahe das Pathos überwältigen.
F.W. Bernstein hat einmal in einem Erinnerungstext beschrieben, wie Erich Kästner Mitte der sechziger Jahre die Pardon-Redaktion besucht hatte und wie ehrfürchtig die Redakteure dem großen Humoristen und Überlebenden der Nazi-Zeit begegnet waren.
Am Tag, als der Bernstein in meine Welt kam, war die Ehrfurcht schon bald wie weggeblasen – auch weil Fritz, der zwar immer die Aura eines leisen Herrn und zurückhaltenden Gentlemans ausstrahlte, sich in kürzester Zeit von jedem beim Vornamen anreden ließ, um erst gar keine Distanz aufkommen zu lassen. Nur wenige nannten ihn „Bernstein“ – ursprünglich war es sein Spitzname als Schüler in Göppingen, bevor es sein Künstlername wurde.
Der Prozess begann um zwölf Uhr mittags, und bis er um dreizehn Uhr zehn beendet war, protokollierte ich den Verlauf akribisch. In dieser Zeit hielt Fritz alle Beteiligten im Bild fest: die hinter einer Schranke leicht erhöht sitzenden drei Richter; den Gegenanwalt Prof. Wilhelm Nordemann, den ich als „verschnarcht, lustig dummen Menschen“ beschrieb; und das Publikum, zu dem mein Jugendfreund Udo Gansewig, der Bernstein-Schüler Ludwig Lang, der Zeichner Heribert Lenz und der Autor Gerhard Henschel gehörte. Und über allem schwebte als Unschuldsengel Heinrich Böll.
Nach langem Hin und her wurde Henscheid schließlich, wie von den meisten Beobachtern erwartet, schuldig gesprochen. Der Anwalt der Gegenseite und die Richter waren sich früh einig: Der Text war eine Schmähkritik. Das würde teuer werden für den Angeklagten. Henscheid nahm die Niederlage sportlich und kündigte ein Rückspiel an.
Fritz zeichnete, wie er es immer in Runden tat
Zur Beruhigung der Nerven ging es ums Eck in ein biederes Lokal mit dem selbst für Berliner Verhältnisse ungewöhnlichen Namen „Gasthaus Stadt Kassel“. Sogleich kam es zu einem kurzen Disput zwischen Henscheid und seiner Anwältin, als er behauptete, er sei vor Jahren für den Heinrich-Böll-Preis vorgeschlagen worden. Das hätte er doch früher erwähnen sollen, weil es der Argumentation der Verteidigung gedient hätte, tobte Frau Rittig, während der Rest erst einmal ein Frisches trank. Und Fritz zeichnete, wie er es immer in Runden tat, und fügte den blonden Trumm von einem Wirt ins Gesamtbild eines lustigen Gerichtstages ein.
Die vollständige Zeichnung des „Lokaltermins“, die Fritz später einigen der Porträtierten sandte, setzt sich aus den vorgefertigten Elementen zusammen und zitiert ironisch Bildmotive und -strukturen christlicher Malerei der Renaissance und des Barocks zwischen Letztem Abendmahl und Jüngstem Gericht:
Im Himmel wird die göttliche Trinität durch die juristische Autorität ersetzt, der ein mephistophelisch über seine Schulter schauender Tempelwächter zur Seite steht. Die dynamische Verbindung zwischen Himmel und Erde bildet der Götterbote, der als Gläserträger auf Robert Gernhardts „Weinreinbringer“ anspielt und dem von oben herab die mit einer Baskenmütze ausgestattete Dekorationsputte Heinrich Böll vorausfliegt.
Unten auf der Zeichnung sitzen die Jünger im Kreis um den Verkünder, der als Einziger einen aufklärerischen Kaffee schlürft, während Fritz mit dem Stift in der Hand Petrus gleich die Botschaft aufnimmt. Der Kreis im Zentrum aber könnte ein Symbol sein – ein Heiligenschein oder der Ring des Nibelungen oder auch einfach nur ein Tisch: Auf diesem Bierfels sollst du meine Spottkirche gründen.
Vier Tage später traf ich Gerhard Henschel zufällig in Kreuzberg auf einer Party meines Kommilitonen Gunnar Kwisinski wieder. Wie sich herausstellte, hatten wir an der Freien Universität Berlin beim selben Professor, dem Raabe-Forscher Horst Denkler, studiert, ohne uns dort je begegnet zu sein. Henschel etablierte sich gerade als Autor, wir freundeten uns an und trafen uns von da an regelmäßig.
Pathos muss mit Ironie gekontert werden
Vor allem aber traf ich Fritz Weigle – oft auf Bahnhöfen, war er doch wie ich ein „Bahnhofshysteriker“, der Angst hatte, Züge zu verpassen. Meist war er eine Stunde vor Abfahrt auf dem Bahnsteig und beobachtete die Wartenden.
Auf Zugfahrten nach Frankfurt, Greiz oder Kassel zu Buchmessen, Ausstellungen oder Lesungen unterhielten wir uns über abseitige Phänomene wie zum Beispiel Aggressionslinien in der Kunst, die immer von links nach rechts wiesen, weil Zeichner überwiegend Rechtshänder sind. Und er vermittelte die Grundlehre einer vom brutalen Geschrei der Nazis mitgeprägten Nachkriegsgeneration: Pathos ist immer falsch und muss mit Ironie gekontert werden.
Einmal begegneten wir uns überraschend auf einer Vernissage in der britischen Botschaft in Berlin, bei der sich Fritz früh verabschiedete, um mit dem Botschafter und ein paar ausgewählten Künstlern in der Residenz Seiner Exzellenz Muscheln und Rehrücken zu speisen. Wäre Fritz Brite gewesen, hätte ihn die Queen längst zum Ritter geschlagen und er hätte sich „Sir Fritz“ nennen dürfen.
So sehr das Signet „Neue Frankfurter Schule“ ironisch gemeint war, so sehr war Fritz Weigle tatsächlich Lehrer. Er hatte nicht nur die pädagogische Ausbildung, er lehrte, nach seiner Zeit als Redakteur bei Pardon und Titanic, von 1984 bis 1999 als Professor für Karikatur und Bildgeschichte an der Berliner Hochschule der Künste und bei Seminaren der Kasseler Caricatura oder in der 1990 von ihm gegründeten „Zeichenschule an der Eider“ in Rendsburg.
In den Zeichenseminaren wies er auf grundlegende Fehler hin: Oft haben Cartoon-Figuren zu kleine Hände und Füße. Lange, unförmige, knollenartig überzeichnete Nasen – ja, aber auch komische Figuren müssen proportional stimmig sein.
Demnächst werde er wieder ein Gedicht schicken
Ich kannte einige seiner Schüler, und je tiefer ich in diesen Kosmos hineingezogen wurde, desto klarer wurde mir, dass ich kein Fan, Forscher oder Epigone mehr sein wollte, sondern selbst schreiben. Damals hätte ich nicht zu träumen gewagt, dass ich eines Tages sein Redakteur sein durfte.
Rund neunzig Bücher umfasst sein Werk. Darunter sind Klassiker wie „Die Wahrheit über Arnold Hau“, Schätze wie „Bernsteins Buch der Zeichnerei“ oder Ewigkeitsbegleiter wie die Bände mit seinen Gedichten. Sein feinsinniger Witz und seine inspirierende Ironie werden uns noch lange lachen lassen: „In mir erwacht das Tier, / es ähnelt einem Stier. / Das ist ja gar nicht wahr, / in mir sind Tiere rar. // In mir ist’s nicht geheuer, / da schläft ein Zuckerstreuer. / Und wenn der mal erwacht, / dann Gute Nacht!“
Vor ein paar Monaten sah ich Fritz Weigle ein letztes Mal in Berlin vor dem „Medusa“, einem griechischen Restaurant im Friedenauer Dichterviertel, in dem er immer donnerstags einen Zeichnerstammtisch besuchte. Nun stand er, buchstäblich gezeichnet von einem Sturz, auf seinen breiten Stock gestützt da und war sofort hellwach: Er habe doch kürzlich Post von mir bekommen mit der Bitte um einen Text, demnächst werde er wieder ein Gedicht schicken, versicherte er. Dazu kam es leider nicht mehr.
Vor rund 25 Jahren schrieb ich kurz nach dem Henscheid/Böll-Prozess meinen allerersten Artikel für die FAZ und ihren damaligen Redakteur Gustav Seibt. Und damit begann eine neue Geschichte. Auch dank Fritz Weigle. Meine.
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