Nachruf auf Sibylle Lewitscharoff: Angriffe auf die Langeweile
Sie war mal Trotzkistin, verursachte Skandale und bekam den Büchnerpreis. Ein persönlicher Nachruf auf die Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff.
Indiskret habe ich sie nie erlebt, aber Anekdoten hat sie geliebt. Wie alles Charakteristische, Pointierte, aber auch: möglichst Schillernde. Deshalb sei damit begonnen: Vor zehn Jahren, sie hatte gerade den Büchner-Preis gewonnen, besuchte ich sie in der Villa Massimo in Rom.
Den Koffer noch in der Hand, fiel mein Blick auf eine schwarze Handtasche, mit Steinen bestückt (so meine Erinnerung), prominent platziert, ein schimmernder Fetisch und ideal für ihre flamboyante Eleganz. „Bulgari“ sagte die ehemalige Trotzkistin auf der Stelle, „da steckt mein Preisgeld drin.“
Sie war unüberhörbar Schwäbin, aber von unerhörter Großzügigkeit. Mit anderen, aber auch mit sich selbst. Mit Geld, aber auch mit Witz, mit Kenntnissen, mit Herzlichkeit und Dankbarkeit. Ihre gedankliche Schärfe war legendär, doch ohne jede Beckmesserei – und auch das für andere wie für sich selbst.
Dies half bei dem Skandal, der sich, bis heute, mit ihrem Namen verbindet – räumen wir das gleich ein und ab –, ihrer „Dresdner Rede“ 2014, in der sie sich polemisch zur künstlichen Befruchtung äußerte („meine Abscheu ist in solchen Fällen stärker als die Vernunft“): Sie bat um Entschuldigung, und zwar offen, mehrfach und begründet. Auch die Unerschrockenheit gehörte zu ihrem bemerkenswerten Charakter.
Sie schrieb Romane, Hörspiele, auch für die Bühne – und so luzide wie lebendige Essays. Ihre Interessen reichten von der Philosophie über die Musik und die Ästhetik (auch in der angewandten Form der Mode) bis zur bildenden Kunst; einige Objekte aus ihrer präzisen Hand – u.a. ein „Grammatikspiel“ und Dantes „Inferno“ als Installation aus Papier – waren im Marbacher Literaturinstitut, wo auch ihr Nachlass hoffentlich intensiv gepflegt wird, ausgestellt.
Offensiv skurril
Ihre Karriere als Autorin begann in Berlin, wo sie bei Klaus Heinrich Religionswissenschaften studierte („da war intellektuell einfach mehr los als bei den Germanisten, wo es entsetzlich fade zuging“), und zwar mit der offensiv skurrilen Erzählung „Pong“, die ihr 1998 den Ingeborg-Bachmann-Preis einbrachte.
Es folgten die Romane „Montgomery“, „Consummatus“, „Apostoloff“, „Blumenberg“ und „Killmousky“, und schon aus den Titeln lässt sich schließen, was ihr wie ihren Leser:innen höchstes Vergnügen machte: Die Sprache als lautmalerisches Phänomen und als Angriff auf die Langeweile.
Der Stoff ihrer Geschichten war das 20. Jahrhundert, vorzugsweise in seinen edgy parts und mit autobiografischem Gehalt: In „Apostoloff“ reist die Ich-Erzählerin in das Heimatland ihres Vaters und rezensiert Bulgarien in Grund und Boden, in „Montgomery“ versucht ein schwäbisch-italienischer Filmproduzent sich an einem Werk über Joseph Süß Oppenheimer, in „Blumenberg“ geht es um die sprichwörtliche Arbeit am Mythos, die der Protestantin Lewitscharoff (katholischem Pomp and Circumstances nicht verfallen, aber sehr zugeneigt) lebenslang produktiv zu schaffen machte.
In ihren Romanen wird viel gestorben; „manchmal habe ich mich im Verdacht, dass ich eine wichtige Figur nur deshalb sterben lasse, weil ich sonst nicht weiterwüsste“. Die MS-Erkrankung, mit der sie geschlagen war, forderte ihre Unerschrockenheit noch einmal heraus, und die Intellektuelle begegnete ihr mit all der Lebensklugheit, die sie eben trotz- und außerdem auszeichnete.
Unsicher auf dem Geisthügel
Seit dem Tod ihres Mannes, des Künstlers Friedrich Meckseper, waren ihre vielen Freundschaften, spielerisch, gewitzt und solidarisch, noch präsenter als zuvor. Auch produktiv war sie bis zum letzten Lebenstag.
„Jeder Tote“, heißt es in ihren Zürcher Poetikvorlesungen, „der uns etwas bedeutet, hat einen spitzen Geisthügel emporgetrieben, auf dem wir unsicher herumrutschen, für kurze Momente sogar stehen, was uns einen größeren Überblick gestattet, als ihn der unter dem Hügel verborgene Tote seinerzeit hatte. Aber nun, da ihm alle Zeit gehört, ist der Tote im Vorteil, und wir sollten lernen, uns seine schmiegsamen Künste gefallen zu lassen. In diesem Sinne noch einmal – Guten Morgen, oder vielmehr guten Abend, ihr lieben Toten, nur immer herein.“
Sibylle Lewitscharoff starb, 69-jährig, am 13. Mai in Berlin.
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