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Nachruf auf Iepe RubinghEiner, der im Quadrat gelebt hat

Der Aktionskünstler Iepe Rubingh, Erfinder des Schachboxens, ist mit 45 Jahren in Berlin gestorben. Ein Freund und Weggefährte erinnert sich.

Schachboxen: Weltmeister Nikolay „The Chaiman“ Sazhin mit Iepe Rubingh (rechts) 2008 in Berlin Foto: dpa

Eine Brachfläche in Berlin-Mitte, Anfang der Nullerjahre. Zwei blonde Holländer sitzen in einem Boxring und spielen Schach, anschließend dreschen sie aufeinander ein. Ein euphorisches Publikum feuert die Kämpfer an: bis einer fällt oder schachmatt ist. Eine neue Sportart ist geboren.

Offiziell arbeite ich bei diesem Try-out als Abendleitung. Mein journalistisches Herz klopft jedoch und weiß: Dies ist eine Weltneuheit. Ich sehe, wie Iepe Rubingh alias Iepe the Joker seinem Amsterdamer Kumpel Luis the Lawyer den Sieg im Kombinationskampf abringt. Ich schreibe den ersten Artikel über Schachboxen.

Ein paar Wochen später: Mit zwei vollen Bussen fahren wir nach Amsterdam. Im Klub Paradiso, einer ehemaligen Kirche, sehen Tausende Schaulustige die Feuertaufe dieses Hybridsports. Ich halte die Hand von Rubinghs Mutter Anje, sie will nicht, dass ihr Sohn sich prügelt.

Nach Zeitüberschreitung des Gegners wird Iepe der erste Weltmeister, mit einem Regelwerk, das er selbst erdachte. Der Tischlersohn aus Rotterdam – der von Hitlers Luftwaffe zerstörten Hafenstadt – provoziert auf holländischem Boden, lässt für sich die deutsche Nationalhymne singen, ein Ring-Girl hält die schwarz-rot-goldene Fahne hoch.

Sein Motto: Reclaim the streets

Nachdem er in dort in den wilden Neunzigern,,Tschüss Amsterdam! Ihr habt einen Sohn verloren“ plakatiert hatte, kam Rubingh Ende der Neunziger nach Berlin. Er zog in die Kastanienallee im damals noch alternativen Prenzlauer Berg, die Luft war schwanger von Anarchie und Freiheit. Iepe wurde Aktionskünstler und Drum-’n’-Bass-DJ. Seine erste Fotoausstellung „K12, 1.HH, 4.OG 2.L“ fand in seiner Altbauwohnung statt. Es wurde eine fette Party, viele folgten, alle Schwarz-Weiß-Nacktbilder wurden dabei geklaut.

Das Haus, im idyllischen Hirschhof, hat bis heute schwere Kriegsschäden. Die Fassade bröckelt, überall Einschusslöcher. Nie wäre er umgezogen. Die Bar Schwarzsauer nebenan wurde seine Stammkneipe. Zahlreiche Nächte endeten mit Freunden auf seinem Dach.

Auch ich kam aus Amsterdam als Geschichtsstudent an die Spree. Kurz darauf rief Rubingh an. Er wollte den Hackeschen Markt absperren, damals noch kein touristischer Hotspot. Ein frühes Zeichen gegen Gentrifizierung. Sein Motto: Reclaim the streets. Ein schwüler Spätsommerabend, 1999. Zehn Männer mit Stirnlampen rennen über den Platz, verbinden mit jeweils fünfhundert Meter Polizeiabsperrband alle Laternen. Ein Verkehrschaos und ein spontanes Volksfest entstehen. Rubingh wird verhaftet.

Das Gleiche wiederholt er kurz darauf auf der stark frequentierten Shibuya-Kreuzung in Tokyo. Er dirigiert seine Helfer im kanariengelben Kostüm, landet in den Abendnachrichten und zehn Tage in der Zelle. Nur mit diplomatischer Hilfe kommt er raus.

Irritainment pur

Iepe the Joker nannte seine global Aufsehen erregenden Aktionen Joker Performances. Aber er sprach wie sein Vorbild Joseph Beuys („Jeder Mensch ist ein Künstler“) auch von sozialen Plastiken. Am liebsten baute Iepe Rubingh mit vielen Beteiligten Gesamtkunstwerke.

Wie in Kreuzberg am 1. Mai, ich war dabei. Unter dem Motto „Kampfbereit“ veranstalte The Joker Interventionen auf der Straße, Irritainment pur. Der selbsternannte Narr hielt den agitierenden Massen meterlange Spiegelfolie vor. Rubinghs schweigende Menschen in Blaumännern mit blauen Protesttafeln ohne Text irritierten die lokale Rotfront.

Ich selbst verkaufte an dem Tag im Zeitungskostüm Abos an ermüdete Einsatzpolizisten und feurige Demonstranten, weil die praktisch orientierten Holländer am Tag der Arbeit arbeiten, während die Deutschen, prinzipiell wie immer, für Gerechtigkeit aufstehen. Rubingh brachte es fertig, dass kichernde japanische Mädchen, Demo-Touristen, Beamten in einer Polizeiwanne auf dem Schoß saßen.

Er war ein Enfant terrible, ein Hans Dampf, ein Tausendsassa mit unendlichen Ideen. Bei den Mai-Krawallen platzierte er eine Frau im roten Kleid in der Oranienstraße zwischen Wasserwerfern und Schwarzem Block. Kurz vor der Eskalation rief sie durch ein Megafon: „Küssen auf’s Maul!“ Sofort schmusten eingeschleuste Pärchen leidenschaftlich auf dem Boden. Gewalt wurde verhindert.

Wir stellten uns zwischen die Glatzköpfe, die uns als blonde, blauäugige Arier begrüßten

Fünf Kilometer weiter, in der Aktionsgalerie in Mitte, lange vor der Smartphonezeit, sah das Sektpublikum diese Performances in einer Kommandozentrale live auf Leinwand – dachte es: weil schnelle Radfahrer die Kamera-Bilder gebracht hatten – die Telefonschalten mit Reportern waren inszeniert.

Rubingh war ein Pragmatiker, ein Macher. Ich weiß noch, dass wir, begleitet von einem Filmteam, nach Hellersdorf zu einer NPD-Demo fuhren. Iepe hatte gerade mit Boxen angefangen. Wir stellten uns zwischen die Glatzköpfe, die uns als „blonde, blauäugige Arier“ begrüßten. Iepe verband seine Hände und begann zu singen: „Jeder Sprung auf meinem Seil ist zehn Mal besser als dein Sieg Heil!“ Anschließend provozierte er mit Schattenboxen.

Verrückte Ideen dachte Rubingh sich in seiner Badewanne aus, pontifikal im Wohnzimmer platziert. Anfang 2000 verloren wir Künstler unsere Ateliers im Haus des Lehrers am Alex. Nebenan in der Kongresshalle stand auch die Erotikmesse vor dem Aus: „Wenn wir alle ausziehen, machen wir das lieber selbst.“ Die Darstellerinnen hatten damit kein Problem, die meisten „Lehrer“ schon. Aber Iepe ließ, vor der Hauptstadtpresse, mit uns und den Go-go-Girls gern die Hose runter.

Er war ein Feierbiest

Er war, um mit dem Fußballgenie Louis van Gaal zu sprechen, ein Feierbiest. Er vergnügte sich mit sieben Kolumbianerinnen im Pool. Er schleppte Kurvenwunder Molly Luft zum Striptease auf eine Weddinger Kegelbahn. Bei Fußball-WMs brachten wir die Rivalität zwischen Oranje und der Mannschaft zum Kochen.

Seine Kunst jedoch war gesellschaftlich relevant, berührte den Menschen. Am Potsdamer Platz baute er die Mauer wieder auf, aus Protest gegen das rasche Verschwinden. Ein riesiges, schwarzes Narrenschiff mit Künstlern aus bedrohten Klubs wie I.M. Eimer zogen wir wie das trojanische Pferd in die Hackeschen Höfe. Seine Arbeit war auch nachdenklich, poetisch. Er schlief im Museum, ließ einen Baum am Hackeschen Markt an sonnigen Sommertagen regnen. Das „Wunder von Berlin“ funktionierte mit einem versteckten Drainagesystem und führte zu einem Wet-T-Shirt-Wettbewerb.

Rubingh gab der Wirklichkeit Farbe. Am Rosenthaler Platz in Mitte ließ er im Jahr 2010 Fahrradfahrer an allen Ampeln gleichzeitig 5.000 Liter abwaschbare, umweltfreundliche Farbe auskippen. So zwang er die Autofahrer, ein rot-blau-gelbes Mosaik zu machen: „Painting Reality“.

Aber sein größtes Geschenk an die Welt war das Schachboxen. Als kleiner Junge gab ein futuristischer Comic von Enki Bilal ihm die Idee ein, als Erwachsener sprach er mit Gari Kasparow und den Klitschko-Brüdern darüber.

Mit anderen gründeten wir den Chess Boxing Club Berlin. Rubingh wurde Präsident des Weltverbands WCBO. Es gibt mittlerweile Vereine von Moskau bis London, von Iran bis Indien, mit Tausenden Nachwuchskämpfern. Durchtrainierte Polizisten und Feuerwehrmänner aus Berlin wurden ebenso Weltmeister wie Raumfahrtstudenten aus Krasnojarsk.

Iepe wurde Impresario des Intellektual Fight Clubs, war der Don King des Kombinationssports. Ein Eventmanager und Kreativunternehmer, der die Columbiahalle und den Festsaal Kreuzberg füllte. Der Storyteller und Pecha-Kucha-Activist sprach an Universitäten und vor Betrieben.

Am 8. Mai 2020, ein dreiviertel Jahrhundert nach der deutschen Kapitulation 1945, wurde der 45-jährige Iepe Rubingh tot in seiner Wohnung gefunden. Der König war gefallen, sein Löwenherz hatte aufgehört zu schlagen. Er hat das Leben maximal genossen. Ein Freund sagt: Iepe hat im Quadrat gelebt. Sein Bruder Monne baute den Holzsarg, darauf eine Schachfigur und ein Jokerherz gefräst. Auf Postern in der ganzen Stadt stand: „Tschüss, Berlin! Ihr habt einen Sohn verloren.“

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