Nachruf auf Harald Thielsch: Mit einem Bein im Kosmos
Harald Thielsch war Lebenskünstler, Mystiker und Theaternachbar. In Bremen fand er Wegbegleiter für das letzte Stück seines ungewöhnlichen Lebens.
An Haralds Tod ist nichts Ungewöhnliches – auch wenn es natürlich traurig ist, dass keiner seiner Freunde so ganz genau weiß, wann er eigentlich starb. Es ist auch finster, dass er wohl allein war im Krankenhaus. Und auch, dass seine kleine Wohnung hinter der anonymen Fassade eines Bremer Wohnblocks inzwischen geräumt ist und seine Sachen auf dem Müll liegen.
Ja, es ist traurig, wie Harald gestorben ist. Aber ungewöhnlich ist es eben nicht, weil von den rund 2.700 Menschen, die jeden Tag in Deutschland sterben, wohl die wenigsten im Kreise ihrer Lieben mit einem versöhnlichen Wort auf den Lippen lächelnd abtreten. Man könnte umgekehrt auch sagen: Sein tief trauriger Abgang war vielleicht das Allergewöhnlichste an Harald.
Schon über seine Trauerfeier am vergangenen Montag lässt sich das nicht mehr behaupten. Da standen ein paar Handvoll Menschen auf dem Platz vor seinem Haus, die tauschten Geschichten aus und warfen mitgebrachte Zweige ins Feuer. Weil Harald ja Stöckchen gesammelt hat, die Hunde am Wegesrand zurückließen.
Viele hier sind Künstler:innen, Szenegänger aus der Bremer Neustadt, Theatermenschen aus dem Umfeld der Schwankhalle: Bremens Spielstätte und Produktionshaus der freien Theaterszene, die nicht zufällig genau neben Haralds letzter Wohnung steht und die zu seinem letzten Lebensmittelpunkt werden sollten, als ihn die meisten längst abgeschrieben hatten – er selbst vorneweg. Es war jedenfalls ein Lebensabschnitt, in dem alte und kranke Alleinstehende für gewöhnlich nicht mehr teilhaben an der Welt und den künstlerischen Eskapaden der Jüngeren. Denn auch das ist mindestens ungewöhnlich an dieser Trauerfeier: dass die überwältigende Mehrheit ihrer Gäste ein paar Jahrzehnte jünger ist als ihr absenter Gastgeber.
Aber wer war nun dieser Harald und was hatte er hier zu suchen? Genau wissen tut es keiner, aber profund behaupten lässt sich dieses: Harald Theodor Thielsch wird am 10. Mai 1954 geboren und verbringt eine gewisse Zeit in Marbeck, einem Dorf im westlichen Münsterland, nicht weit von der holländischen Grenze. Er ist umtriebig, betreibt ein Künstler:innenkollektiv auf dem Land, wird Mönch und bewirtschaftet den Klostergarten. Wer das nicht glaubt, dem zeigt er seinen knittrigen Ordensausweis. Dass man ihm den eigentlich längst wegnehmen wollte, glaubt man danach dann auch ohne Beweise. Es gibt Geschichten aus dieser Zeit, von denen die beste damit endet, dass irgendwann „der Fernseher der Brüder aus dem Fenster fliegt“. Aber die gehört hier nicht her.
Eine kuriose Erscheinung
Schon äußerlich war Harald eine kuriose Erscheinung: ein hageres Männlein mit zerzaustem Haar und Filz im Bart, meist mit Zigaretten zwischen den Fingern, die ein bisschen gefährlich aussahen. Er trug bunte Mäntel, manchmal Röcke und manchmal Selbstgeschneidertes, für das es keinen Namen gibt und das unten herum manchmal unanständig luftig geschnitten war.
Wichtig ist Haralds Krankengeschichte, die wie gesagt fast das letzte Kapitel seines Lebens geworden wäre: Ein Schlaganfall reißt ihn aus dem Leben. Eine Niere geht kaputt, die neue stößt sein Körper ab. Harald landet im Rollstuhl, unternimmt diverse Reha-Anläufe und hängt für 13 unglaubliche Jahre an der Dialyse. Und er steht doch wieder auf: Raus aus dem „scheiß Stuhl“, wie er oft sagt, raus aus den Krankenhäusern und aus dem Heim. Und rein in die kleine Bremer Rentnerwohnung und in die Theaterszene.
Diese Geschichte beginnt mit Haralds Puppen, die er seit Jahren schon baut. Fürs unbedarfte Auge erinnern sie an Horrorfilmrequisiten, angefangen hat er damit aber, weil sie ihm nach einer wohl schmerzhaften Trennung Nähe gaben. „Das Hirn will getäuscht werden“, hat er mal zu einer Erklärung angesetzt – und dann doch wieder von was anderem angefangen.
Der halb genesene Harald beobachtet jedenfalls das Treiben vor dem Fenster und in der Schwankhalle gegenüber. Die Leute faszinieren ihn sofort und auch die Installationen im Theaterfoyer wecken sein Interesse. Er stellt eigene Figuren ins Fenster und lässt so eigenwillige Künste aufeinander reagieren.
Stammgast bei den Aufführungen
Das fällt auch gegenüber auf. Man kommt ins Gespräch und lädt ihn ein. Harald wird zum Stammgast, sitzt in den Aufführungen, wann immer sein Körper mitspielt. Dabei hatte er mit Theater bis dahin eigentlich nicht viel zu tun. Früher mal hat ihn Tanzlegende Pina Bausch begeistert, die ein bisschen wie Harald aus NRW in die weite Welt strahlte. Aber sein Interesse zerreibt sich bald an mürbem Sprechtheater und dem real existierenden Schauspielbetrieb der Provinz.
Stattdessen macht Harald Kampfsport: Wushu, oder Kung Fu. Harald verehrt seinen Lehrer und eifert ihm nach, trainiert Jugendmannschaften im Kämpfen und in Lebensführung nach Augenmaß: „Alkohol und Rauchen waren okay“, sagt er mal, „aber erst nach dem Training“.
Über den Schlaganfall vergisst er diese Zeit, sein Kopf lässt ihn im Stich. Manchmal rufen ihn vertraute Menschen an, von denen er nichts mehr weiß. Wahrscheinlich liegt hier ein Schlüssel zu Haralds Werk: also zu den Skulpturen, Fotos, dem arrangierten Nippes in seiner Wohnung, den er in einem krude scheinenden, zahlenmystischen System organisiert. Er nummeriert die Fragmente seiner Erinnerung, richtet sein Schaffen, seine Vergangenheit und seine Gegenwart wie einen kosmologischen Countdown auf den 80. Geburtstag aus, den er nicht mehr erleben sollte. Und er stellt es auf seine Website terranaughtcraft.de, wobei ihm Menschen aus der Schwankhalle helfen, weil Harald mit dem Computer nicht mehr gut kann.
Ordnung für das Chaos der Erinnerungen
Seine Motive – sein Stoff – mögen Hokuspokus sein, sein Anliegen ist es nicht. Es ist der elliptische, im Detail aber unglaublich präzise Versuch, Ordnung in das Chaos seiner Erinnerungen, seiner Pläne und Zufallsbegegnungen zu bringen. Die Suche ist kein Unsinn, sondern beweist an allen Ecken und Kanten immer wieder eine scharfsinnige Beobachtungsgabe und echtes Interesse an der Welt. Der Mystizismus ist Haralds Form, nicht sein Anliegen.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Anders lässt sich auch nicht begreifen, dass in Sachen Esoterik gänzlich unverdächtige Menschen Haralds Trauerfeier bei Vollmond abhalten, oder dass die Lichtinstallation im Turm der Städtischen Galerie nebenan ihren Abschiedsgruß durch einen Rosenquarz in den Nachthimmel morst. Der Künstler hat eigens im Sinne Haralds recherchiert: Dieser Stein soll gut sein fürs Herz, an dessen Erkrankung er wohl starb.
Es hat gefunkt zwischen Kunstszene und Harald. Und das nicht aus Mitleid oder weil er so ein angenehmer Mensch gewesen wäre. Na gut, es war tatsächlich schwer, ihn nicht irgendwie zu mögen, aber Harald konnte auch ziemlich garstig werden – und anstrengend in der Zusammenarbeit. Die unverzichtbare Basis dieser (ja!) Freundschaften war die Kunst: Haralds Empathie gegenüber den Performing-Arts und die Ernsthaftigkeit, mit der er sich mit diesen völlig neuen Eindrücken auseinandersetzt.
Wer mal hinter ihm in einer Show saß, wird sich unweigerlich an Haralds körperliche Reaktionen auf das Bühnengeschehen erinnern: Wie er heftig nickt, sich regelrecht aufbäumt, wenn ihn was bewegt – und wütend schnaubt, wenn was scheiße ist. Im Theater ist kein empathischeres Publikum denkbar als dieser früh alt gewordene Mann aus dem Nachbarhaus.
Harald hat sich in seinem letzten Lebensabschnitt neu erfunden: nicht wie es Lifestylefritzen tun, sondern indem er seine von Krankheit zerschlagene Identität aus ihren Fragmenten als Kunstprojekt neu zusammengesetzt hat. Haralds Website müsste man sein Lebenswerk nennen, wenn es nicht eigentlich ein Sterbenswerk wäre. Tatsächlich hat ihn das schon zwei Jahre vor seinem Tod umgetrieben: was nach ihm aus der Seite wird. Er hat sich schon damals zuständige Helfer:innen ausgesucht, wohl auch der Zahlen wegen für je 36 Monate im Amt. „Danach muss sich was finden“, hat er gesagt, für die 30 oder 40 Jahre, die er noch von Bedeutung sei.
Ja, Harald wusste, was er wollte. Das kann niemand bestreiten, auch wenn sonst viel im Trüben verborgen liegt. Eine Spurensuche im Internet verrät nicht viel über sein früheres Leben: ein paar Kurzrezensionen für irgendwelche Orte, die er besucht hat. Ein altes Facebook-Profil mit 28 Freund:innen – einer davon ist er selbst mit einem anderen kleinen Profil. Und er führte auch noch ein paar andere mehr.
Seine Familiengeschichte hat Harald nur lückenhaft erzählt. Dass es Brüche gab, ist klar. Es wäre auch komisch, wenn nicht. Auf der Trauerfeier blieben die Freunde und Freundinnen jedenfalls unter sich – mit ihren Erinnerungen an einen doch wirklich sehr ungewöhnlichen Nachbarn.
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