Nachruf auf Dramaturg Carl Hegemann: Er war auf Erkenntnis aus
Der Dramaturg Carl Hegemann prägte an der Volksbühne das Kulturleben Berlins. Er verzichtetet auf Machtgesten und demonstrativen Ehrgeiz. Ein Nachruf.

Vor 30, auch noch vor 25 Jahren gab es in Berlin offenen Stadtraum, der in intellektuellen und künstlerischen Spielraum verwandelt werden konnte – selbst wenn man sich das heute nicht mehr vorstellen kann. Sehr viel von dem, was in dieser von ihrer eigenen Freiheit beseligten Zeit in Berlin gespielt wurde, geht auf den Dramaturgen Carl Hegemann zurück, der jetzt im Alter von 76 Jahren sehr plötzlich verstorben ist.
Er, der Dramaturg mit der Doktorarbeit über Fichte und Marx in der Tasche, später Hochschullehrer auf Wanderschaft, war mehr Rhapsode als Denker. Jede Frage an ihn löste einen Redeschwall aus, der kaum je auf den Punkt kam und vielleicht vor allem emotionale Zugewandtheit demonstrieren wollte – eine Offenheit, in der andere wachsen konnten. Das Viben war mehr sein Ding als die Sinnstiftung. Er kam aus Paderborn, wo er im März 1949 geboren wurde, und hat sich so tief in Berlin eingeschrieben, dass man ihn für berlinerisch wie Hildegard Knef aus Ulm halten konnte. Für berlinerisch wie Harald Juhnke aus dem Wedding.
In drei Phasen der Intendanz Castorf an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz war Hegeman dort Chefdramaturg – in einer traurigen Spätphase, in der großen klassischen Phase (fünf Stunden Dostojewski mit dem All-Star-Ensemble) und in einer Frühphase nach dem Abgang von Castorfs Indendanz-Mitbegründer Matthias Lilienthal.
Mehr Spielraum als bei Castorf
Bei der Entgrenzung der antiautoritäten Spielwut von Christoph Schlingensief in der Frühphase dürfte er eine wichtige Rolle gespielt haben. Vielleicht hatte er dort auch mehr Spielraum als bei Castorf, der sein eigenes Genietum schon für ausgemacht hielt. Das Pfund, mit dem Schlingensief wucherte, war eine nervöse Unsicherheit und Durchlässigkeit, die öffentlich überkompensiert werden musste. Die beiden waren also sehr gut füreinander geeignet.
Und deshalb konnte man 1998 plötzlich in einem Zirkuszelt einer Parteigründung beiwohnen. Die Partei hieß Chance 2000, Vorsitz Schlingensief. Als Stimmausweis bekamen alle eine Nudel, und der Ruf zur Abstimmung lautete deshalb: „Zeige deine Nudel!“ Später ging die Partei geschlossen im KaDeWe einkaufen, worauf die Polizei eine Kolonne Wannen vorfahren ließ, um die Teilnehmer*innen zu ermutigen, das Kaufhaus wieder zu verlassen.
Noch später sollte durch gemeinsames Baden im Wolfgangsee das Ferienhaus von Bundeskanzler Helmut Kohl überschwemmt werden. (Die Parteigeschichte verzeichnet außerdem einen gemeinsamen Auftritt mit Sahra Wagenknecht, und zwar auf einem taz-Event. Man kann jetzt darüber nachdenken, ob sie Schlingensiefs satirisches Früh-Querdenkertum vielleicht ernst genommen hat. Kunst kann schreckliche Folgen haben, wenn das Leben sie imitiert.)
Es war unmöglich, nicht mit ihm zu reden
Diesen ganzen schönen und unschuldig wilden Wahnsinn hat Carl Hegemann befördert und mit ausgeheckt. Manche aus dem Kulturberlin dieser Zeit sind in durchgeplanten Karrieren erstarrt, andere sind viel zu jung gestorben oder wüten in ihrem selbst gegrabenen Bergwerk weiter. Und jetzt leben wir in einer Stadt, die entschlossen ist, nur noch die Affekte des spießigsten und provinziellsten Teils der Bevölkerung zu bedienen und die Kulturszene für ihre Restlust am Chaos zu bestrafen.
Hegemanns Machtinstrument war vielleicht einfach seine Präsenz. Es war unmöglich, nicht mit ihm zu reden. Aber es lag ihm fern, mit seiner Präsenz aufzutrumpfen, egal wie viele Machtmenschen ihn umgaben. Er hat nie darauf bestanden, ernst genommen zu werden. Vielleicht weil er wirklich auf Erkenntnis aus war und wusste, dass man in den hierarchischen Strukturen deutscher Ernsthaftigkeit an sie nicht herankam.
Das ist vielleicht Hegemanns eigentliches Vermächtnis: ein Leben im Verzicht auf offene Machtgesten, auf demonstrativen Ehrgeiz, mit allem, was dieser Verzicht zum Blühen gebracht hat.
In der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz war jetzt zum Theatertreffen Florentina Holzinger zu Gast, in einem völlig veränderten Berlin der Gegenwart. Eine freundliche Künstlerin, die ohne großes formales Muskelspiel mit extremen Schockmomenten arbeitet und daraus eine Art Paradies für traumatisierte Frauen und trans Menschen baut – einen Schutzraum gegen männliche Machtgesten, der sich zum Publikum hin öffnet. Die Künstlerin arbeitet ohne große Vorbilder, aber trotzdem hört man ein Echo der autoritätsverachtenden Volksbühnen-Impuse von früher.
Als die zweite Vorstellung von Florentina Holzingers Produktion „Sancta“ am Freitag vorbei war, kam die Nachricht vom Tod Carl Hegemanns.
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