Nachruf Tschingis Aitmatow: Geliebt für eine Liebesgeschichte
Gegen den Modernisierungsdruck: Mit Tschingis Aitmatow starb ein Botschafter Kirgisiens, der seine Heimat auf die Karte der Weltliteratur setzte.
Der Autor von "Dshamilja" ist tot. Ein unfairer Satz, aber für die Rezeption des Kirgisen Tschingis Aitmatow im Westen bezeichnend. "Dshamilja" war zunächst nicht mehr als Aitmatows Abschlussarbeit am Maxim-Gorki-Institut für Literatur. Diese "schönste Liebesgeschichte der Welt" (Louis Aragon) begründete dann aber seinen Weltruhm, setzte seine kirgisische Heimat auf die Karte der Weltliteratur und rührte nicht zuletzt ungezählte heranwachsende Menschen zu Tränen.
"Dshamilja" spielt im Jahr 1943. Erzählt wird die Liebesgeschichte zwischen der unglücklich verheirateten Dshamilja und dem Frontheimkehrer Danijar aus der Perspektive und im Kinderton von Dshamiljas fünfzehnjährigem Schwager Said. Im Rahmen des Möglichen progressiv ist der Ausgang: Die Liebenden verlassen das Dorf und brechen so mit der Tradition. Aitmatow hat den Erfolg von "Dshamilja" nie wiederholen können, aber er war kein One-Hit-Wonder. Es folgten viele weitere Bücher, ambitioniertere darunter wie der Roman "Der weiße Dampfer" (1970), der die kirgisische Märchenwelt zur Entzauberung der sowjetischen Gegenwart mobilisierte, oder das mit Motiven der utopischen Literatur spielende "Der Tag zieht den Jahrhundertweg" (1980).
Die Biografie des Tschingis Aitmatow führte ihn von der Peripherie in die Zentren. Aufgewachsen war er im kirgisischen Dorf Scheker. Früh verlor er seinen Vater, der im Zuge des stalinistischen Terrors im Jahr 1938 hingerichtet wurde. Aitmatow schlug sich durch mit allerlei Hilfsarbeiten, machte einen Abschluss an der russischen Schule und studierte Tiermedizin in der kirgisischen Hauptstadt Frunse (heute: Bischkek). Über den Journalismus und als Übersetzer ins Russische gelangte er zur Literatur und über die Literatur nach Moskau ins Gorki-Institut und von da in die Welt. Er machte Karriere als Funktionär, war Redakteur der Prawda, setzte sich unermüdlich ein für die Anerkennung der kirgisischen Literatur in der Sowjetunion und darüber hinaus. Kirgisien blieb das Zentrum seiner Literatur, die ästhetisch nicht den Anschluss an die westliche Moderne suchte.
Aus kirgisischer Perspektive richtete sich das Beharren auf lokaler Tradition immer auch gegen den von Moskau her wütenden Fortschrittsterror. Für seinen Erfolg im Westen, der in den Achtzigerjahren seinen Höhepunkt erreichte, wurde dagegen nicht zuletzt sein Bewusstsein für die Gefährdungen der Natur wichtig. Weitab von den üblichen Pfaden der westlichen Wahrnehmungsgeografie etablierte Aitmatow damit Kirgisien als Sehnsuchtsort, dem aus der Ferne dann unvermeidlich auch beträchtliches Kitschpotenzial zuwuchs.
In den letzten zwei Jahrzehnten seines Lebens war der 1928 geborene Aitmatow vor allem als Politiker präsent. Ein wichtiger Perestroika-Verbündeter Michail Gorbatschows in den Achtzigerjahren, nach dem Ende der Sowjetunion Botschafter des unabhängig gewordenen Staates Kirgisien in Frankreich und den Beneluxländern. Mit seinen Büchern hatte er nur mehr wenig Glück, der im letzten Jahr in deutscher Übersetzung erschienene Roman "Der Schneeleopard" fand vor der Kritik keine Gnade. Nach einem längeren Klinikaufenthalt ist Tschingis Aitmatow nun in Nürnberg gestorben. Als berühmtester Weltbürger von Kirgisien wird er in seiner Heimat ein Staatsbegräbnis erhalten.
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